Bielefeld: Die Metropole im Nirgendwo

Die „gute Stube“ der Stadt – der Alte Markt.
Die „gute Stube“ der Stadt – der Alte Markt.Imago
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„Bielefeld gibt's doch gar nicht“, dieser Gag sorgt längst nur noch für müdes Gähnen. Die Stadt schaut nach vorn, wächst und wird gern besucht. Zu sehen gibt es eine mächtige Burg, Industriedenkmäler und einen großen Wald.

Still ist es an diesem frühen Sonntagabend im Herzen der „Großstadt“. Auf dem Alten Markt gehen die Lichter an. Ein Schweinwerfer erleuchtet das Crüwellhaus aus dem 16. Jahrhundert, ein Prachtbau der Weserrenaissance mit reich verziertem Sandsteingiebel. Ein Skateboarder klackert über das teure indische Pflaster, das sich die chronisch klamme Stadt gegönnt hat. Im Nieselregen schimmert es goldbraun. Hinter der Altstädter Nikolaikirche flattert eine Krähe krächzend davon.

„Bewusstes Hinhören entspannt“, flüstert Klangkünstler, Tönesammler und Komponist Marcus Beuter. Aus rumpelnden Baugeräten, brummenden Autos, Stimmen, Schritten, Fetzen vorbeiklingender Musik, Polizeisirenen und Schlachtrufen von Fußballfans komponiert er akustische Bilder unseres Alltags. Nun lauscht er wieder, geht zurück in den „Hörmodus“, der ihm „Ruhe und Gelassenheit gibt“.

Bielefeld produziert leise Töne. Über dem Zentrum thront auf einem Höhenzug des Teutoburger Waldes das Wahrzeichen der 330.000-Einwohner-Metropole: die Sparrenburg, eine mächtige Festung aus dem 13. Jahrhundert. Die Altstadt zu ihren Füßen ist nicht alt, die Neustadt nicht neu. In den 1950er-Jahren baute man beide eilig wieder auf, nachdem der Krieg nicht viel von ihnen übrig gelassen hatte.

Brigitte Brand kam als Archäologin nach Bielefeld. An der Welle hatte man begonnen mittelalterliche Siedlungsreste auszugraben. Sie freute sich auf die „spannende Aufgabe“, sah die Stadt und „wollte sich lieber arbeitslos melden als hier bleiben“. Inzwischen leitet sie das Bielefelder Kulturamt und möchte „auf keinen Fall wieder weg“. Sie schwärmt von der „unglaublichen Kulturszene, den vielen exzellenten freien Theatern, den kleinen, schrägen Galerien, dem professionellen Drei-Sparten-Theater, dem überregional bekannten „Leuchtturm Kunsthalle“ und den vielen Menschen, die sich – oft im Stillen – für ihre Stadt engagieren. In Bielefeld vermisst die Kunsthistorikerin und Archäologin nur das bunte, pralle Leben großer Städte und das Wasser. Kein Meer, kein See weit und breit, nur ein Stausee, an dessen Ufer ein künstlicher Sandstrand im Sommer Urlaubsstimmung schafft. Die Besucher entspannen sich in Liegestühlen, spielen Beachvolleyball und holen sich ihre Cocktails an der tropisch anmutenden aus rohem Holz gezimmerten Bar. Zum Baden ist der Obersee zu schmutzig.

Ungefährliche Heimat

„Diese Stadt liebt man auf den zweiten Blick“, meint Künstlerin Marie-Pascale Gräbener. Sie schätzt die Überschaubarkeit und die verlässlichen Netzwerke, die sie sich hier geschaffen hat. „Hohe künstlerische Lebensqualität“ nennt sie die enge Zusammenarbeit der vielen Maler, Musiker, Bildhauer, Theaterleute und anderen Kreativen. Hier fühle sie sich aufgehoben und sicher – „eine ungefährliche Heimat: keine Erdbeben, keine Überschwemmungen“, ergänzt sie mit einem hintergründigen Lächeln, das auch ihren humorvollen, zuweilen bissigen und stets fröhlichen Zeichnungen innewohnt. Den versteckten Charme der Stadt schaffen die Menschen, die ihren Lebensraum mit ihrem Engagement bereichern. Zahlreiche Initiativen engagieren sich auch für Flüchtlinge, helfen, wo sie können.

Scharen von Kabarettisten arbeiten sich an den angeblich so wortkargen, abweisenden Ostwestfalen ab. Jürgen Rittershaus zum Beispiel fährt als Heinz Flottmann mit Besuchern in einem Linienbus durch die Stadt, um ihnen die Perlen seiner Heimat zu erschließen. An einer der vielen Ampeln bringt der Komiker im karierten Sakko mit blauem Pullover und grün-weiß gestreifter Krawatte das städtische Verkehrskonzept auf dem Punkt: Hinter der Ampelschaltung stecke das Stadtmarketing, das die Übernachtungszahlen in die Höhe treiben wolle. „Das funktioniert“, ergänzt der 60-Jährige mit ernster Stimme und zeigt das halbrunde Weiß der Stadthalle, die an einen gestrandeten Dampfer erinnern soll. Das Kunstwerk davor, ein rund drei Etagen hoher leerer Metallrahmen, diene dem örtlichen Bundesligaverein Arminia zum Torwandschießen. „Da treffen sogar die.“

Die Bielefelder lieben ihren „Fahrstuhlklub“. Kaum eine Mannschaft ist so oft auf- und abgestiegen, wie die Schwarz-Weiß-Blauen. Spielt der Klub zu Hause, hallen die Gesänge und Anfeuerungsrufe durch den ganzen Bielefelder Westen. Das Stadion liegt mitten in einem Wohngebiet zwischen Innenstadt und der Universität. Wie es zu seinem Namen Alm gekommen ist, liegt im Dunkeln der Vereinsgeschichte. Inzwischen trägt es wie die meisten Fußballtempel den Namen seines Hauptsponsors.

Skaterpark statt Heilquelle

Die kabarettistische Busreise führt zum vor ein paar Jahren neu gestalteten Kesselbrink. Im 17. Jahrhundert habe man dort eine Heilquelle gefunden, die bald danach wieder versiegt sei. Der Platz wurde Weide, Marktplatz, Parkplatz, Busbahnhof. Mit seiner Umgestaltung zur Grünanlage mit Wasserspielen und einem der größten Skaterparks Deutschlands wollten die Planer Raum vor allem für junge Leute schaffen. Der grüne Würfel am Rande des Platzes beherbergte ein Café, das sich nicht halten konnte. Kein Wunder, lästert Rittershaus, habe er doch in dem von Efeu überwachsenen Bau eher „das Hauptquartier des Nato-Herbstmanövers“ als ein Gasthaus vermutet.

Kaputtsanierer

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Stadtplaner nicht weniger zerstört als die Bomber 1944/45. In letzter Minute verhinderte eine Bürgerinitiative den Abriss der Ravensberger Spinnerei. Das um 1850 im Tudor-Stil erbaute Fabriksschloss, einst größte Flachsspinnerei auf dem europäischen Kontinent, sollte einer Straßenkreuzung weichen. Schließlich baute es die Stadt zum Bildungs- und Tagungszentrum mit Volkshochschule um. Inzwischen hat der Bau als Vorbild für die kulturelle Nutzung ehemaliger Industriebauten zahlreiche Architekturpreise gewonnen.

Was die selbst ernannten Stadtsanierer übrig gelassen haben, wird heute liebevoll gepflegt: Fachwerkhäuser aus mehreren Jahrhunderten, die Reste eines Klosters aus der Renaissance in der Altstadt, der Siegfriedplatz im studentischen Westen mit seinen Bürgerhäusern aus dem frühen 20. Jahrhundert, ein Adelshof aus dem 16. Jahrhundert, in dem der Kunstverein oft gewagte und umstrittene Ausstellungen zeigt, der Park der Kunsthalle und viele Bauten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Hinterwäldler

Comedian Jürgen Rittershaus beklagt das mangelnde Selbstbewusstsein seiner Heimatstadt. Man versuche krampfhaft, „keine Provinz zu sein“ – und mache sich damit erst recht zum Hinterwäldler.

Und tatsächlich gibt es viele Bäume hier: Mitten durch die Stadt verläuft der Teutoburger Wald, rund ein Fünftel der Stadtfläche. Dazu kommen zahlreiche Parks und 580 Kilometer Wanderwege. Von fast jedem Punkt der Stadt aus sieht man das Grün. Mancherorts scheinen die Bäume über den Dächern der Häuser zu schweben.

Zurück von seiner Klangexpedition durch die Bielefelder Altstadt überlegt Tonkünstler Marcus Beuter, bevor er die Frage nach den Besonderheiten seiner Heimatstadt beantwortet: „Wir suchen unsere Identität in der Vergangenheit, der Familie, der Nation oder unserer Heimatstadt. Damit schließen wir andere aus, die nicht dazugehören.“ Er finde es viel interessanter, eine „Identität zu schaffen, die möglichst viele einschließt“.

BIELEFELD-INFO

Verortung: am Ostrand von Nordrhein-Westfalen an ICE-Bahnstrecke sowie Autobahnen A2 und 33.

Grünanteil: Mitten durch die Stadt verläuft der Teutoburger Wald mit dem Höhenwanderweg Herrmannsweg. In Summe 580 km Wanderwege und 4800 Hektar Wald. Mitten drin liegt der 16 Hektar große Heimattierpark Olderdissen mit 450 Tieren, darunter zwei Braunbären, Wölfen, Eulen, Vielfraßen.

Museen/Galerien: www.bielefelder-museen.de

Museum Wäschefabrik: In einem Hinterhof im Spinnereiviertel, 1913 erbaute, original erhaltene Produktionsstätte der Wäscheindustrie. Fabrik und Unternehmervilla samt Inventar seit den späten 1960ern fast unverändert. www.museum-waeschefabrik.de

Bauernhausmusuem: Auf einer Lichtung im Teutoburger Wald alte Fachwerkhäuser und Bockwindmühle. www.bielefelder-bauernhausmuseum.de

Historisches Museum: Industrie- und Stadtgeschichte, www.historisches-museum-bielefeld.de

Stiftung Hülsmann: Bekannte Kunsthandwerk- und Kunstgewerbesammlung von Renaissance bis Bauhaus, in klassizistischer Direktorenvilla der Ravensberger Spinnerei. www.museumhuelsmann.de

Kunsthalle: 1968, von US-Architekt Philip Johnson geplant. Ausstellungen von überregionaler Aufmerksamkeit. www.kunsthalle-bielefeld.de

Galerien: Z.B. die Galerie 61 (http://galerie61.de), das atelier d (www.atelier-d-online.de), die Ateliergemeinschaft Freiraum 23 (www.freiraum237.de) oder die bekannte Galerie Samuelis Baumgarte (www.galerie.samuelis-baumgarte.com).

Rudolf-Oetker-Halle: 1930 fertiggestellte Konzerthalle mit mehreren Sälen, angeblich mit die beste Akustik in Deutschland. www.rudolf-oetker-halle.de

C.ult Chamber: Seinen 100 Jahre alten, fünf Meter hohen Tanzsaal hat Musikspezialist Michael Schulte in eine Kultlocation verwandelt. www.c-ult.de

Bunker Ulmenwall: Zum Kulturzentrum umgebauter alter Luftschutzbunker.Jazz, Singer-Songwriter, Lesungen. www.bunker-ulmenwall.de

Tonkünstler, Komponist, Klängesammler Marcus Beuter: Ausgefallene Klanginstallationen. marcusbeuter.fragmentrecordings.de

Cooperativa Neue Musik: Konzerte/Festivals. https:/cooperativaneuemusik.wordpress.com

Theater: Kaum eine Stadt dieser Größe hat so viele freie Theater: Vor allem das Theaterlabor (www.the- aterlabor.de) mit internationalen Koops und dem Nachwuchstheaterfestival Junge Triebe sowie das Alarmtheater erzielen mit ihren Produktionen viel überregionalen Beifall. Die Stadt betreibt ein Drei-Sparten-Haus (www.theater-bielefeld.de). Vor allem dessen TAM überrascht oft mit originellen Inszenierungen. www.freie-theater-bielefeld.de

Info: www.bielefeld.jetzt, Veranstaltungskalender.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2018)

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