Vienna-Shorts: Protest auf der Leinwand

engagement. Der spanische Film „Organising the Impossible“ läuft bei VIS.
engagement. Der spanische Film „Organising the Impossible“ läuft bei VIS.(c) „Organising the Impossible“/Carme Gomila, Tonina Matamalas
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Der Kurzfilm um 1968 erprobte radikale Ästhetiken. Bezüge zur Gegenwart stellt das Vienna-Shorts-Kurzfilmfestival her.

Auf den Straßen von Berlin, 1968. Ein junger Mann läuft mit roter Fahne zwischen fahrenden Autos und steht im Gegensatz zum grauen Stadtbild. Er trägt die Fahne, bis ein anderer sie ihm abnimmt. Nach gut zehn Minuten erreicht der Staffellauf das Rathaus. Der letzte Läufer hisst das leuchtend rote Symbol am Balkon, Passanten schauen erstaunt zu. Die Aktion in „Farbtest. Die rote Fahne“ des Berliner Filmemachers Gerd Conradt machte gar den Staatsschutz und das Abgeordnetenhaus von Berlin auf sich aufmerksam. „Aber im Film nimmt unterwegs niemand Anstoß, es ist, als würde man bloß nebenherlaufen. Das ist für mich ein Sinnbild. Denn ich glaube, dass damals schon viele Menschen engagiert waren, trotzdem waren nicht alle wirklich aktiv“, beschreibt Maike Mia Höhne die Arbeit Conradts.

„How Long, Not Long“. Martin Luther Kings visionäre Worte, im Film von Michelle und Uri Kranot.
„How Long, Not Long“. Martin Luther Kings visionäre Worte, im Film von Michelle und Uri Kranot.(c) „How long, not long“/Uri Kranot, Michelle Kranot

Höhne ist selbst in Berlin tätig. Seit zehn Jahren kuratiert sie die Berlinale Shorts, das Kurzfilmprogramm des Filmfestivals. Zum aktuellen Jubiläum von 1968 beschäftigte sie sich mit eben dieser Avantgarde, forschte, wer beim Film die Aktivisten waren, die einen Aufbruch versuchen wollten. „Rote Fahnen für alle“ hieß ihr so entstandenes Sonderprogramm für die Berlinale, das sie – adaptiert und unter dem neuen Titel „Heimat ist dort, wo ich etwas ändern möchte“ – auch beim kommenden Vienna-Shorts-Festival in Wien zeigt: Sechs Filme, die um das historische Revolutionsjahr gedreht wurden. „Ich habe mir angeschaut: Was war da für ein Spirit? Die Bilder von Menschen, die auf die Straße gegangen sind und einen Wechsel gefordert haben, haben wir ja alle Millionen Mal gesehen. Mich interessiert vielmehr: Wie war der tatsächliche Alltag und was hat das für die künstlerische Auseinandersetzung bedeutet?“, schildert Höhne.

Umbruch. Im Film des deutschsprachigen Raums fand die 68er-Bewegung vor allem in Köln, Hamburg und Wien statt. „Es gab diese Lust auf Veränderung, und viele haben sich entschieden, filmische Mittel zu verwenden, um ihren Standpunkt klarzumachen“, blickt Höhne zurück. Man wollte Umbrüche, neue Formen und neue Narrative. Die künstlerische Avantgarde ging Hand in Hand mit der politischen Bewegung. In Hamburg zeigte die „Filmemacher Cooperative“ ein anderes Kino, andere Blicke, abseits des Mainstream-Kinos. In Köln machten die Experimentalfilmer Birgit und Wilhelm Hein für ihren „Rohfilm“ Material kaputt, indem sie es zerschnitten und neu zusammenklebten; ein radikaler ästhetischer Neuanfang, der nötig war, um auch thematisch die Gesellschaft neu zu erklären, meint Höhne. Eine Frage sei gewesen: „Wie kann ich anders als die Herrschenden erzählen?“ In Wien haben die Aktionisten auf Bühnen und im öffentlichen Raum für Veränderung protestiert, Hans Scheugl, Valie Export oder Kurt Kren filmten ihre Performances, machten „Expanded Cinema“.

rebellisch. Martha Colburns Punkattitüde prägt ihre Animationsfilme.
rebellisch. Martha Colburns Punkattitüde prägt ihre Animationsfilme.(c) „Myth Labs“/Martha Colburn

Von grundlegender Bedeutung ist bis heute, vom Aussprechen der Unzufriedenheit zum Handeln zu kommen. Wie kann man die Verbesserung der Gesellschaft weiterdenken, ohne sich gleich wieder mit der Facebook-Timeline abzulenken oder Kuchen essen zu gehen? Das Vienna-Shorts-Festival hat Höhnes Schwerpunkt als historischen Vergleich einbezogen, um vor diesem Hintergrund insbesondere einen Blick auf das Jetzt zu werfen: Wie nah sind aktuelle Filme am Geist von 1968, zeigen sie widerständige Ideen? „Wir verhandeln noch die gleichen Themen“, findet Daniel Ebner, künstlerischer Leiter des Festivals. Ein Beispiel: Nahm damals die Frauenbewegung Schwung auf, beschäftigt sich heute etwa #MeToo mit der Rolle der Frau. Womöglich war 1968 der Veränderungswille stärker, überlegt Ebner: „Es ist schwer, heute Revolutionen anzuzetteln, wenn die Individualisierung und Selbstoptimierung im Vordergrund stehen und nicht die Optimierung der Gesellschaft.“ Deshalb ruft sein Festival bewusst zu Widerspruch und Debatte auf. In einer von Identitätspolitik und Polarisierung geprägten Zeit müsse man wieder lernen, einander zuzuhören und zu diskutieren: „We need to disagree“, das Motto, das VIS dieses Jahr formuliert hat, sucht konstruktiven Protest.

Aufrütteln. Ebner hat dazu weitere historische Filme aktuellen Positionen gegenübergestellt, um Revolutionsenergien zu vergleichen: Die Personale eines „unbequemen Experimentalfilmers“, Ernst Schmidt jr., der im Umfeld der Wiener Aktionisten „sehr radikale Miniaturen geliefert hat“ – so hat er die legendäre „Uni-Ferkelei“ von Brus, Wiener, Muehl und Weibel mitgefilmt – zeigt die subversive Kraft der alten Filme, die für viele noch immer vorbildhaft zu sein vermag: „In ihrer rauen Machart spürt man den Wunsch, schnell etwas zu verändern, und die Kraft der Botschaft dahinter“, sagt Ebner. Die zweite Personale gilt der zeitgenössischen Animationsfilmerin Martha Colburn. Als Schwester im Geiste von Schmidt jr., mit ähnlich unbeugsamer Energie, setzt sie sich in politischen Collagen mit dem Amerika-Bild auseinander.

„farbtest“. 1968 hissen  junge Männer die symbolische  rote Fahne am Berliner Rathaus.
„farbtest“. 1968 hissen junge Männer die symbolische rote Fahne am Berliner Rathaus.(c) „Farbtest. Die rote Fahne“/Gerd Conradt

„Film ist ein gutes Medium zur Revolution: Er ist unmittelbar, eignet sich zur Emotionalisierung und kann aufrütteln“, schätzt Ebner das Potenzial ein, das auch heute im Filmischen liegt. Gerade der Kurzfilm ermögliche Selbstermächtigung, der Zugang ist einfach, jeder kann mit dem Handy einen Protestfilm drehen. In manchen Momenten blitzt Revolutionsenergie auf – oft bleibt sie oberflächlich. Wie kann man heute noch Aufmerksamkeit erregen? Vielleicht wieder mit Aktionismus, versucht Ebner gedanklich den Bogen zu 1968 zu schlagen. Man könne politische Aktionen vermehrt mit Film begleiten, denn Bilder haben Macht – und können auch manipulieren. Wie sie das kollektive Gedächtnis bestimmen können, zeigt die Ausstellung „Shaping Democracy!“, die als Teil des Festivals derzeit im Museumsquartier mit 24 Kurzfilmen dazu anregt, über Demokratie und das Narrativ der Nation Österreich nachzudenken.

Von nationaler Identität erzählt auch das Dreiecksprogramm, für das sich Festivals dreier Städte mit dem VIS-Thema beschäftigen: Neben Glasgow und Barcelona hat Ebner Beiträge aus Wien kuratiert. Sein Programm über Nationalismus und Ausgrenzung beginnt mit Hubert Sieleckis „Österreich!“ aus der Zeit der ersten schwarz-blauen Regierung, fragt weiter, wie sich Gemeinschaften formen und wandeln lassen. Eine Antihaltung reicht für politisches Engagement nicht, ist Ebner überzeugt: Man müsse Argumenten widersprechen, sich aber auch einfühlen können. Sein Part endet mit einem Film von Michelle und Uri Kranot (2016), „der die starken Worte ,How long? Not long‘ von Martin Luther King aufgreift“, erzählt er: „Sie sollen ein Aufruf zur Empathie sein.“

Tipp

VIS – Vienna Shorts. Internationales Festival für Kurzfilm, vom 29.  5. bis 4.  6., Sonderprogramm zum Festivalthema „We need to disagree“.
www.vienna-shorts.com

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