Exildeutsche in Wien: Stolz, ein Piefke zu sein

Piefke
Piefke(c) FABRY Clemens
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Sie stehen kurz davor, zur größten Migrantengruppe des Landes zu werden. Zwar ist mit ihrer zunehmenden Masse die Beliebtheit gesunken, dafür legen die Exildeutschen in Wien ein neues Selbstbewusstsein an den Tag.

Was haben die Stadt Löhne in Nordrhein-Westfalen und das bayerische Memmingen mit Wien zu tun? Die Zahl der deutschen Bewohner. In einer Liste der größten deutschen Städte würde sich Wien zwischen diesen beiden auf Platz 266 einreihen. 40.925 Menschen deutscher Herkunft lebten mit Stichtag 1. Jänner 2009 in der österreichischen Hauptstadt. Tendenz steigend, denn die Zuwanderung aus dem nördlichen Nachbarland geht nach wie vor rasant weiter. So rasant, dass die Deutschen vermutlich Ende dieses Jahres die Serben als größte Migrantengruppe ablösen dürften.

Und die Deutschen tragen diesen Status mittlerweile mit einem gewissen Selbstbewusstsein nach außen. „Wir sind gekommen, um zu bleiben“, lautet der Titel einer literarischen Bestandsaufnahme, in der Exildeutsche über das Verhältnis zu ihrer neuen Heimat – und der neuen Heimat zu ihnen – schreiben. Ja, selbst das eigentlich als Schimpfwort gebräuchliche „Piefke“ wird fast schon mit kokettem Stolz als Selbstbezeichnung getragen. Auch im wirklichen Leben. So hat sich etwa im Onlinenetzwerk „Xing“ eine Gruppe von mehr als 700 Deutschen in Österreich unter dem Namen „Piefke-Connection“ zusammengefunden.


Leidensgemeinschaft. „Wir sind gewissermaßen eine Leidensgemeinschaft“, sagt Gründer Jockel Weichert. Der gebürtige Schwabe, der seit 1999 in Wien lebt und eine eigene Kommunikationsagentur betreibt, wurde erst hier damit konfrontiert, dass er Deutscher ist – „In Deutschland ist man ja Bayer, Schwabe oder was auch immer.“ Der 35-Jährige gehört zu den First Movers – nach dem EU-Beitritt 1995 setzte die Zuwanderung der Deutschen tröpfchenweise ein, verdoppelte sich im Jahr 2001 auf mehr als 5000 Menschen und liegt seit 2007 bei rund 10.000 deutschen Zuwanderern pro Jahr. Doch mit der Masse begann das Klima gegenüber den neuen Migranten rauer zu werden.

Dennoch, als Selbsthilfegruppe zur Bewältigung von Deutschenhass sieht Weichert die „Piefke-Connection“ nicht. Gegründet rund um die Fußball EM 2008, war sie dazu gedacht, ein paar Landsleute zusammenzutrommeln, mit denen man gemeinsam die Spiele anschauen kann.

Aber natürlich wird in der Gruppe auch darüber diskutiert, mit welchen Dingen man als Deutscher hier konfrontiert ist – und wie man Fettnäpfchen umschiffen kann. „Man sollte sich mit direkter Kritik zurückhalten“, meint Weichert, „denn das klingt bei Deutschen von oben herab.“ Vor allem in Führungspositionen müsse man da sensibel sein, „sonst gibt es sehr schnell eine Art stillen Widerstand.“

Dieses hinter der Hand vorgetragene Bocken mag typisch für das österreichische Wesen sein. Denn wirklich offenen Hass auf Deutsche kann man hier kaum beobachten – im Gegensatz zur Schweiz, wo die Schweizer Volkspartei (SVP) zuletzt in deutschen Zuwanderern ein Feindbild entdeckt hat. Sogar das Wort „Überdeutschung“ ist in Städten wie Zürich schon zu hören. Besonders gegen eingewanderte Akademiker richtet sich der Hass – sie würden die Schweizer Universitäten überrennen und die Macht an sich reißen.


Numerus Clausus. Es sind auch die Unis, an denen in Österreich der Missmut gegenüber deutschen Zuwanderern seinen Ursprung genommen hat. Doch im Fokus stehen nicht die Professoren, sondern die Studenten. Vor allem an den Medizin-Unis drohen die Kollegen aus dem Nachbarland den Einheimischen den Rang abzulaufen. Hektische Reparaturversuche mittels Quoten und Hilferufe zum deutschen Nachbarn konnten nur bedingt für Entlastung sorgen. Konsequenz: Mit dem steigenden Ansturm deutscher Numerus-Clausus-Flüchtlinge an Österreichs Unis – derzeit sind es mehr als 17.000 – sanken auch gleichzeitig deren Beliebtheitswerte in den Keller.

„Der Groll der Wiener ist angebracht“, sagt Alexandra Ludwig, „weil überall nur mehr Deutsche sind. Aber andererseits tun mir die deutschen Studenten deswegen auch leid.“ Die Grafikerin kann sich in die Situation ihrer Landsleute gut einfühlen, schließlich kennt die gebürtige Filderstädterin die kleineren und größeren Gehässigkeiten aus eigener Erfahrung. Seit sie vor dreieinhalb Jahren nach Wien kam, bekam sie immer wieder ein „deppate Piefke“ zu hören. Als sie in der Bäckerei Brötchen bestellte. Als sie in einem Club auf eine Frage mit „nö“ antwortete. Selbst im Büro entkam sie den Piefke-Witzen nicht. „Ich war unsicher, irgendwann traut man sich dann gar nicht mehr, deutsch zu reden.“

Dabei zählt sich die 29-Jährige eigentlich zur privilegierten Sorte deutscher Zuwanderer – durch ihren Freund, einen Wiener, fand sie schnell österreichische Freunde. „Andere müssen sich dann zu anderen Piefkes flüchten.“ Sie hingegen versteht mittlerweile den Wiener Dialekt, verwendet sogar selbst Ausdrücke wie „ur“, „oarg“ und „schiarch“. „Nur ,Sackerl‘ kann ich noch nicht sagen.“

Doch ihre Kenntnisse reichen auf jeden Fall aus, dass sie bei Besuchen in der alten Heimat fast für eine Österreicherin gehalten wird. Und selbst in Wien hört sie immer wieder anerkennende Worte à la „du redest noch immer piefkinesisch – aber weicher.“ Darüber kann sie schon lachen, gehässige Wortmeldungen ignoriert sie aber mittlerweile. Auch aus Selbstschutz, denn „durch manche Witze wurde ich erst zu der arroganten Deutschen geformt, für die man mich sowieso gehalten hat.“ Da konterte sie mit dem Neid auf den „großen Bruder“ oder stichelte über die österreichischen Fußballambitionen. „Das war auch blöd“, meint sie heute.


Feinde im Fußball. Zum Höhepunkt gegenseitiger Anfeindungen kommt es regelmäßig, wenn die beiden Nationen auf dem Fußballfeld aufeinandertreffen. Cordoba 1978, der Sieg des kleinen Bruders gegen den großen, wird den Deutschen dann immer wieder genüsslich unter die Nase gerieben. Zumindest bis zum Ende des Spiels, das die Österreicher meist schnell auf den Boden der sportlichen Realität bringt. Nächste Gelegenheit: Bei der Qualifikation zur EM 2012 wurden Österreich und Deutschland in dieselbe Gruppe gelost. Auseinandersetzungen sind also garantiert.

Doch das Geschehen auf dem Spielfeld ist wohl nur die Projektionsfläche eines gegenseitigen Misstrauens, das sich irgendwo in der Geschichte aufgeschaukelt haben muss, als das einstige Habsburgerreich auf ein kleines Land reduziert wurde, dem man kaum eine Zukunft vorhersagte. Und das zunächst lange damit liebäugelte, wieder mit dem großen Bruder Deutschland vereint zu sein.

Dieser Wunsch ist – bis auf die wirren Fantasien einiger Nationalnostalgiker – weitgehend verblasst. Dafür werden nun die Gegensätze umso deutlicher hervorgehoben. Und die gibt es – egal, ob sie von vornherein da waren, oder erst durch die gegenseitige Abgrenzung kultiviert wurden. „Ich dachte damals, das ist doch nicht wirklich ins Ausland, wo ich hingehe“, erzählt Lisa Oppold. „Heute weiß ich, dass es anders ist.“ Direkt nach ihrem Studium in Karlsruhe war sie 2007 nach Wien gekommen – und bemerkte, wie viel sie von der hier herrschenden Mentalität trennt. Der Hang zur Vergangenheit, etwa, der sei in Deutschland bei Weitem nicht so stark ausgeprägt. Auch die „dörfliche Atmosphäre“, die sich Wien als Großstadt – im Gegensatz etwa zu Berlin – bewahrt habe, habe sie überrascht. „Man kann sich hier so viel besser von allem abkapseln, was draußen in der großen Welt passiert.“

Auch an die Art der Kommunikation, die so ganz und gar nicht der deutschen Geradlinigkeit entspricht, musste sie sich erst gewöhnen. „Alte Schule“, nennt die 28-jährige Architektin das. „Herzliche Grüße“, zum Beispiel, „das würde in Deutschland niemals jemand sagen.“


Stille Assimilierung. Nun, in Deutschland vielleicht nicht, doch die Deutschen in Österreich eignen sich das einheimische Vokabular recht schnell an, zumindest in Grundzügen. Schließlich gibt es einige praktische Austriazismen, mit denen man sich die Kommunikation um einiges einfacher machen kann: „Das geht sich aus“, zum Beispiel. Kaum ein Deutscher, der nicht begeistert darüber ist, in welcher Vielfalt (zeitlich, räumlich, argumentativ und vieles mehr) diese Redewendung eingesetzt werden kann. „Das ist so praktisch“, meint auch Stefanie Schuschnigg, die seit 2001 hier lebt.

Begonnen hat es in Frankfurt, wo sie ihren zukünftigen Mann kennenlernte – einen Österreicher. Nach einem halben Jahr Wochenendbeziehung beschloss sie, ihm nach Wien zu folgen. „Eine klare Entscheidung: Ich komme und ich bleibe.“ Doch trotz aller Begeisterung – ganz kann sie ihr deutsches Erbe nicht abschütteln: „Ich kann meine Sprache ja nicht am Grenzübergang abgeben“, meint sie. Und findet es höchst anstrengend, dass sie auch nach neun Jahren immer noch „gepflanzt“ wird, wenn sie eine Tüte verwendet oder den Fernseher „anmacht“. Ihren drei Kindern will die 42-jährige Germanistin ein ähnliches Schicksal jedenfalls ersparen – indem sie sie zweisprachig erzieht: „Die Mami sagt Tomate – wie sagt die Oma?“ fragt sie etwa. „Paradeiser“ krähen die Kleinen dann mit leicht deutschem Akzent. Zum Mülleimer sagt man hier Mistkübel, zum Eiskasten Kühlschrank – „in der Schule werden sie dann schon wissen, was sie sagen können, und was nicht.“


Parallelgesellschaft. Ein Bemühen um Integration, das fast schon vorbildhaft ist. Und ein Bemühen, das den Deutschen in jüngster Zeit gerne abgesprochen wird. Dass sie sich zusammenrotten, ihre eigenen Clubs haben, ihre eigenen Veranstaltungen – und so eine Art Parallelgesellschaft installieren, lautet ein oft gehörter Vorwurf. Gerade unter den Studenten haben sich gegenüber den deutschen Kommilitonen derartige Vorbehalte eingenistet, die man sonst aus der Bevölkerung vor allem im Zusammenhang mit Migranten aus der Türkei hört. Weitere Parallele: Es wird so gut wie nie hinterfragt, ob man am „Unter-sich-bleiben“ der anderen nicht ein bisschen Mitverantwortung tragen könnte.

Doch bei aller Rivalität und aller Feindschaft, die zwischen Österreichern und Deutschen auch herrschen mag – einen Startvorteil haben unsere nördlichen Nachbarn gegenüber allen anderen Zuwanderergruppen in jedem Fall: Einen „Piefke“ würde wohl niemand pauschal als „Ausländer“ bezeichnen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2010)

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