Pop

Japans Popszene: Superstars im Schulmädchenlook

Wer in Japans lukrativer Idol-Szene herausstechen will, braucht ein Gimmick: Bei der Band Kamen Joshi sind es Serienkiller-Masken.
Wer in Japans lukrativer Idol-Szene herausstechen will, braucht ein Gimmick: Bei der Band Kamen Joshi sind es Serienkiller-Masken.Getty Images
  • Drucken

Sie dürfen keinen Freund haben – dafür haben sie Fans, die jede Choreografie mittanzen: Die streng nach dem japanischen Niedlichkeitsgebot designten, von Talentagenturen rigoros gemanagten „Idols“ dominieren den J-Pop. Bei ihren Auftritten folgt selbst das Publikum einer genauen Etikette. Annäherung an ein bizarres Pop-Phänomen.

Wer seinen Idolen nahekommen will, muss sich erst einmal am Automaten anstellen. Hier, in einem kleinen Konzertsaal im siebten Stock eines Karaokecenters in Tokios Animeviertel Akihabara, steht er im hinteren Eck. Für Verwunderung darf so ein Meet-and-Greet-Automat in einem Land wie Japan, wo von der Essensbestellung im Restaurant bis zum Glücksbringerkauf im Shinto-Schrein so manches über Maschinen abgewickelt wird, nicht sorgen. Erstaunlich ist eher, wie gesittet der Fan-Kontakt hier, wo die J-Pop-Band Kamen Joshi bis zu zweimal täglich ein Konzert gibt, abläuft: Von Hysterie ist nichts zu spüren. Gekreische, Tumulte? Fehlanzeige.

Mit einigem Respektabstand steht das Publikum – bei dieser Nachmittagsvorstellung sind es ausschließlich Männer über dreißig – von den Sängerinnen entfernt, die nach dem Konzert mit Namensschildern um den Hals auf und vor der Bühne Aufstellung genommen haben. Das Saallicht ist hell. Immer wieder nimmt ein Fan seinen Mut zusammen, geht zum Automaten und zückt sein Portemonnaie. Im Angebot: ein Handschlag mit seinem Lieblingsbandmitglied. Ein Polaroidfoto, genannt „Cheki“. Eine Begegnung mit dem niedlichen Mädchen, das er auf Instagram und YouTube verfolgt, für das er regelmäßig in diesen Konzertsaal geht, an das er in einsamen Stunden denkt.

Das soll keine Übertreibung sein: Die sogenannten Idols (auf Japanisch: „Aidoru“), also die von Talentagenturen gemanagten und oft in Girlgroups zusammengefassten Mädchen (Boybands sind rarer), sind in Japan ein nationales Kulturphänomen. Sie befeuern die Tagträume von Millionen obsessiven Teenagern wie auch älteren Fans, sie dominieren den J-Pop (Japan-Pop) – in einem Musikmarkt, der nach dem US-amerikanischen der größte der Welt ist. Und sie entsprechen klaren Idealen: Süß und kindlich sollen sie aussehen, ganz „kawaii“ – so heißt das in Japan allgegenwärtige ästhetische Prinzip, das etwa auch Hello Kitty hervorgebracht hat. Dafür tragen sie Kostüme, die oft an Dienstmädchen- oder Schuluniformen erinnern, mit kurzen Röckchen, Puffärmeln und knalligen Stoffen, mit Zöpfen und perfekt gestutzten Stirnfransen.

Das Identifikationspotenzial bei den Fans ist groß: Viele Mädchen träumen davon, auch von einer Agentur entdeckt zu werden, viele Burschen fantasieren sich in eine Beziehung mit den Idols. Dazu vermittelt die unermüdliche Social-Media-Marketingmaschinerie eine Illusion von Intimität: YouTube-Videos lassen die Fans am „Leben“ der Popsternchen teilhaben, zeigen sie beim Rudern im Park, beim Ramen-Wettessen oder wie sie sich gegenseitig Streiche spielen.

Hände desinfizieren!

Handshake Event“ nennen Fans die Gelegenheiten, mit ihren Idolen in ein kurzes, streng überwachtes Gespräch zu kommen. Wie eben hier nach der Kamen-Joshi-Show in Akihabara: Mit dem Ticket, das der Automat ausgespuckt hat, geht ein aufgeregter Fan zu den Mitarbeitern der Band, die ihm einen Patzer Desinfektionsgel auf die Hand drücken, ihn zum Mädchen seiner Wahl führen, fotografieren (besonders beliebt: die Herz-Finger-Pose) und nach spätestens einer Minute wieder höflich verscheuchen – worauf er wieder seinen Beobachterposten im Saal einnimmt, bis ihn ein neuer Impuls überkommt und wieder zum Ticketautomaten schlurfen lässt.

Auch Takuya, von Beruf Feuerwehrmann, ist ein „Wota“, der Szenebegriff für einen obsessiven Fan. Einmal pro Woche kommt er hierher, heute hat er sich extra einen Anzug angezogen. In dürftigem Englisch, aber sehr bemüht erklärt er der verwunderten Besucherin aus dem Ausland die Gepflogenheiten, bevor er kurz zum Ticketautomaten verschwindet und mit einer CD-Single und einem Bon für ein kleines „Cheki“ zurückkommt: „Present!“ Er kennt die Namen aller Bandmitglieder, und wie die meisten Fans hier hat er eine klare Favoritin – es ist das Mädchen mit dem blauen Tüllrock, was er zum Ausdruck bringt, indem er seinen Multicolor-LED-Leuchtstab, ein typisches Konzert-Requisit, auf Blau stellt.

Tanzregeln

Bei der Show folgt auch das Publikum einer geregelten Choreografie. Es ist ein bizarres Schauspiel: Mit ihren LED-Stäben spiegeln die Zuschauer die Armbewegungen der Stars auf der Bühne („Furicopy“ heißt das), reißen an bestimmten Stellen die Arme in die Luft und skandieren Phrasen im Chor. Singt ein Mädchen ein Solo, preschen die Fans mit den farblich passenden Stäben nach vorne. Individuelles Tanz- oder Jubelverhalten ist nicht gern gesehen, auch Fotografieren ist fast immer verboten – was die „Chekis“ zu umso begehrteren Souvenirs macht.

Und die Musik? Für westliche Ohren klingt das meiste, was die Idol-Industrie produziert, nach knallbuntem Kaugummipop: Simple Upbeat-Rhythmen, synthetische Klänge, helle Mädchenchöre – das Ganze oft versehen mit Rap-, Rock- oder gar Metal-Einsprengseln. Die Texte handeln von Liebe oder dem Teenager-Alltag, dazu gibt es eingestreute englische Wörter: „Number one“, „happy“, „why?“.

„Teacher Teacher“ heißt der aktuellste Song der Gruppe AKB48, die seit 2010 unterbrechungsfrei die japanischen Jahres-Singlecharts anführt. Sie bespielt täglich eine eigene Konzerthalle und tourt zugleich durchs Land. Möglich ist das, weil die Band, wie viele andere, in Subgruppen organisiert ist: Wer nach einem Casting aufgenommen wird, gehört erst zur Trainee-Einheit und kann mit den Jahren in höhere Ränge aufsteigen. Am Ende der Bandkarriere steht eine emotionale Graduierungszeremonie vor Publikum – der elegante Ausstieg einer Frau aus dem Idol-Zirkus. Es kann auch anders gehen: Die Regeln, die Idols von ihren Agenturen auferlegt werden, sind streng. Sie sollen moralische Reinheit und Unschuld verkörpern – und nicht zuletzt den männlichen Fans als nicht ganz unerreichbares Objekt der Begierde dienen. Immer wieder werden Mädchen, die beim Rauchen oder Küssen erwischt worden sind, aus der Band geworfen. Ihre Reputation: dahin.

Plastikwaffen

Kamen Joshi (übersetzt: „maskierte Mädchen“) versteht sich als Antipol dazu, als Underground-Band, mit Mädchen, die von anderen Projekten abgelehnt wurden. Hier dürfen sie private Romanzen ausleben, öffentlich geben sie sich rebellisch: Bei Auftritten tragen sie Serienkiller-Masken, schießen mit Klopapierkanonen und headbangen. Auch Kamen Joshi besteht aus Untergruppen: „Alice 10“ tritt mit überdimensionalen Plastikwaffen und Kettensägen auf, die „Steam Girls“ tragen Gasmasken zu futuristisch inspiriertem Glitzergewand, die Lieder nehmen Anleihen am Elektropop. Die „Armor Girls“ mischen – in knallbunten Mittelalter-Rüstungen – Idol-Pop mit irischen Volksliedern.

Beim Lokalaugenschein auf ihrer Tokioter Heimatbühne geht es relativ brav zu. Die Trainee-Klasse ist dran – und kredenzt liebliche Quietschmelodien zu einer trotz Killermasken nicht allzu bedrohlich wirkenden Bühnenshow. Den branchenüblichen Zuckerguss können auch diese „wilden“ Idols nicht ganz abschütteln – so sehr sie sich bemühen. Ganz ironiefrei sagte Mitglied Moa Tsukino einmal: „Wir haben die Niedlichkeit aufgegeben, stattdessen rocken wir – mit der Kraft, die aus dem Inneren unseres Herzens kommt.“

Glossar

J-Pop. Für japanische Popmusik, die von westlichen Harmonien, Rhythmen, sogar westlicher Aussprache geprägt war, etablierte sich in den 90er-Jahren der Name J-Pop. Davor stand der Begriff „Kayōkyoku“ („Schlager“) für japanische Popmusik.

Idol. Fabrizierte Stars gab es schon länger: Schon in den Siebzigern wurden Teenagermädchen populär gemacht. Die 80er-Jahre waren die „Goldene Zeit“ der Idols, mit Schülerbands wie Onyanko Club. Seit 2000 wächst die Idol-Industrie wieder, heute können auch Models oder Internet-Stars Idols sein.

K-Pop. Analog zum J-Pop entstand in Korea der K-Pop: Er will weniger niedlich, lieber cool und sexy sein. Zudem ist er – auch weil der koreanische Musikmarkt ungleich kleiner ist – internationaler ausgerichtet. Das Idol-System gibt es auch hier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Ryuichi Sakamoto
Pop

Go, Neo Geo und federleichter Jazzfunk

Keine Mimikry: Qualitätsvolle Sounds aus Japan werden derzeit hektisch neu aufgelegt.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.