Das Milliardengeschäft verleiht Athleten eine unangebrachte Rolle in der Gesellschaft. Das macht aus ihren Dummheiten aber keine Staatsaffären.
Es ist zu Mesut Özil schon alles gesagt, und vermutlich auch schon von allen. Kaum jemand, der sich keine Meinung zu dem im Protest aus der deutschen Fußballnationalmannschaft zurückgetretenen Star von Arsenal London gebildet hat: undankbarer Millionärslümmel für die einen, armes Opfer dumpfdeutscher Fremdenfeindlichkeit für die anderen, willfähriger Partisan des türkischen Autokraten Erdoğan für wiederum andere.
Aber ist wirklich schon alles gesagt in dieser Sache? Tritt man von dieser bisweilen recht unappetitlichen und fast durchwegs argumentfreien Rechthaberei einen Schritt zurück, fällt etwas auf: Niemand hinterfragt, wieso dem Tun und Sagen eines Fußballspielers derartige Bedeutung beigemessen wird, dass sich – wie am Montag geschehen – sogar der deutsche Außenminister dazu äußern muss. Pointierter gefasst: Was kratzt es die breitere Öffentlichkeit, wie ein 29-jähriger Berufskicker, der sein Leben damit verbracht hat, den Umgang mit dem Ball zu perfektionieren, dafür aber keine Zeit, Muße oder Neigung für intellektuelle Beschäftigungen gefunden hat, seine freien Stunden verbringt und die Welt sieht?
Hier gerät, wer sich ernsthaft um eine Antwort bemüht, rasch zu der Einsicht, dass der Fall Özil grotesk ist – und dass er veranschaulicht, wie unangemessen der Raum ist, den das zum Milliardengeschäft hochgezüchtete Geschäft mit dem Sport in unserer Gesellschaft einnimmt. Statt sich also an Herrn Özil und seiner wahren oder vermeintlichen Weltsicht abzuarbeiten, würde es mehr lohnen, die Bedingungen zu untersuchen, die dafür sorgen, dass dieser Fall so viel Raum in der öffentlichen Debatte beansprucht.
Drei Entwicklungen entfalten sich hier und verstärken einander. Die erste ist die ebenso professionelle wie gewissenlose Perfektionierung des Geschäftsmodells Hochleistungssport, allen voran des Profifußballs. Was vor einer Generation noch ein Zeitvertreib von mehreren war, der allenfalls alle vier Jahre anlässlich einer Weltmeisterschaft globale Aufmerksamkeit erregt hat, ist heute ein pausenloses Spektakel, angefangen bei der Champions League bis hin zur Vermarktung von Sommertrainingsspielen. Wollen wir an dieser Stelle den Skandal ansprechen, dass die Verbände Fifa und Uefa die Freiheit von Steuerpflicht und gesetzlichen Pflichten zur Bedingung für die Austragung von Endrunden machen? Das würde den Rahmen dieser Zeilen sprengen.
Dieses Business jedenfalls braucht ständig neue Produkte, neue Stars, mit denen sich Geld verdienen lässt, am besten ohne lästige Fragen der Medien. Hier tritt die zweite Entwicklung ein, die uns zum Fall Özil führt, nämlich die dank sozialer Medien lückenlos kontrollierbare Schaffung virtueller Helden. Özil ist ein Musterfall dafür. Seine nun viel diskutierte, in geschliffenem Englisch verfasste Anklage- und Verteidigungsschrift stammt natürlich nicht aus seiner Feder. Dafür hat er einen, vermutlich mehrere PR-Berater. Da er selbst öffentlich nichts sagt, weiß niemand, wie er wirklich über Fremdenfeindlichkeit, Erdoğan, Demokratie oder Vorbildwirkung denkt. Das macht ihn zu einer virtuellen Gestalt: Im Leben derer, die nun für ihn Partei ergreifen oder ihn verfluchen, tritt er nie als echter Mensch auf.
Diese tiefe Kluft zwischen perfekt designten Sportsuperstars und der ihnen ergebenen Öffentlichkeit spielt in die dritte gegenständliche Entwicklung, nämlich die Suche nach Vorbildern und Autoritäten in einer postmodernen Zeit, die das Heldenhafte doch eigentlich verbannt zu haben geglaubt hat. Und so projiziert man in den Sport aus beiden Schützengräben des Kulturkampfes Eigenschaften, die er nie und nimmer tragen kann. Weder ist Erfolg oder Misserfolg einer Nationalelf ein Beleg dafür, wie sehr eine Gesellschaft mit sich im Reinen ist, noch soll man jeden Unfug, den ein Kicker von sich gibt, zur Staatsaffäre hochspielen. Heiko Maas, der eingangs erwähnte deutsche Außenminister, legt insofern den vernünftigen Umgang mit dem Fall Özil an den Tag, als er sagt: „Ich glaube nicht, dass der Fall eines in England lebenden und arbeitenden Multimillionärs Auskunft über die Integrationsfähigkeit in Deutschland gibt.“
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2018)