Albanien: Berge an Gastfreundschaft

Wandern in Lepushe
Wandern in Lepushe Imago
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Kaum jemand kennt die Bergwelt des kleinen Balkanlandes als Outdoordestination. Die Bewohner des einsamen Vermosh-Tals ganz im Norden begegnen den Wanderern mit Großzügigkeit und Gastlichkeit. Und es gibt hier den besten Heidelbeersaft.

Das einzige Auto am Grenzübergang Gusinje im Gebirge von Montenegro nach Albanien – trotzdem dauert es rund eine halbe Stunde. Der Beamte ist sichtlich über Reisende erfreut, sorgfältig trägt er alle Daten aus den Pässen und dem Zulassungsschein händisch in sein Heft ein. Dann zeichnet er einen Plan, wo das beste Hotel der Gegend ist, und zeigt Fotos auf seinem Smartphone – das Haus gehört wohl seiner Familie. Doch das Ziel liegt in die andere Richtung, nämlich Vermosh, das nördlichste Tal Albaniens. Dieses weite Hochtal auf rund 1000 Metern Höhe ist umrahmt von sanft ansteigenden Bergen mit weiten Almen zum Wandern. Die Landschaft wird als Perle der albanischen Alpen bezeichnet, und aufgrund der isolierten Lage ist Vermosh bis heute ein weltferner, beschaulicher Ort geblieben.

Gleich hinter der Grenze beginnt eine Schotterstraße, und schon tauchen auch die ersten Bunker auf, ewige Erinnerung an den Diktator Enver Hoxha, der das Land mit eiserner Hand regierte. Er fürchtete Angriffe und ließ Tausende Betonbunker bauen, die heute noch in manchen Vorgärten der Häuser stehen.

Erste Schritte zum Tourismus

Die Ortstafel von Vermosh ist handgeschrieben, mit roten Lettern. Zur Begrüßung trottet eine Familie von Hausschweinen gemütlich vorbei, auch Schafe und Kühe laufen frei herum. Die Quartiersuche gestaltet sich einfach, denn entlang der Straße stehen Schilder mit Infos über die Häuser und ihre Angebote. Auf der rechten Seite fließt träge der Vermosh dahin, im Sommer ist er ein friedliches Rinnsal. Wer jenseits des Flusses wohnt, muss durch eine Furt oder baut selbst eine Brücke, denn der Staat hat kein Geld, sich um diese entlegenen Bauernhöfe zu kümmern. Immerhin existiert seit einem Jahr eine asphaltierte Straße von Shkodra nach Vermosh, daher beginnt dieses Wandergebiet sich langsam dem Tourismus zu öffnen.

Einfach, sauber, mit Wifi

Eine Brücke hat sich auch Leonardo Lumaj gebaut, das Geld kam von seinen Cousins, die in den USA arbeiten. Fast jede albanische Familie hat Verwandte in Amerika, Italien oder Griechenland, die regelmäßig Geld nach Hause schicken. Die schlechte heimische Wirtschaftslage ist auch ein Erbe von Enver Hoxha, die herrschende Korruption macht es nicht besser. Weil es eine Brücke gibt, können Gäste im alten Steinhaus von Leonardo ein Zimmer beziehen. Es ist ratsam, das Angebot von Frühstück und Nachtmahl anzunehmen, denn es gibt im Vermosh-Tal nur einen Minimarkt, der hauptsächlich Dosen verkauft. Aber wie soll man sich verständigen, wenn die Oma des Hauses nur Albanisch spricht? Zum Glück kommt gerade eine einheimische Familie vorbei, die sonst in Italien lebt – und die Kinder übersetzen bereitwillig in einem Mix aus Englisch und Italienisch: 20 Euro pro Person pro Nacht inklusive Essen. Die Zimmer sind einfach und sauber, die Waschräume teilt man sich mit den anderen Gästen. Überraschenderweise ist das Wifi perfekt, denn beim Straßenbau wurde daran gedacht, auch ein Internetkabel zu verlegen. Telefonieren mit Smartphones funktioniert allerdings nicht, das geht nur mit alten Handys mit ausziehbarer Antenne, aber wer hat so ein Ding heute noch?

Küche, Kräuter – alles regional

Das Essen wird im Hof unter einer Holzpergola serviert, in Gesellschaft von hungrigen Katzen, einem übermütigen Kalb und drei Kindern. „Mish?“, fragt die Oma. Ob sie Fleisch meint? Einfach ausprobieren und nicken. Mish heißt tatsächlich Fleisch, und so werden an den Abenden unterschiedlichste Eintöpfe serviert. Einmal sind auch Innereien dabei, die Seniorin zeigt auf einen Körperteil und lacht – das müssen Nierndln sein, wer Mut hat, kostet. Dazu gibt's würzigen Schafkäse, Salat und knuspriges, selbst gemachtes Brot. Wenn sie nicht kocht, kümmert sie sich von früh bis spät um Bauernhof, Wäsche und Kinder. Sie ist wohl erst 60 Jahre alt, geht gebeugt, aber hat stets ein verschmitztes Lächeln, wenn sie in Zeichensprache kommuniziert. Die Sonne versinkt hinter den Bergen, und gleich wird es kühl. Die Nacht ist stockfinster, so kann sich ein gewaltiger magischer Sternenhimmel ausbreiten.

Der Weg ist das Ziel

In den albanischen Bergen werden geführte Touren angeboten. Wer die Einsamkeit schätzt, ist allein unterwegs und kann stundenlang wandern, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Bei jeder Wanderung sollte man mehrere Liter Wasser mitnehmen, denn Hütten gibt es nicht. Auf vielen Wanderrouten haben Schweizer Alpinisten Markierungen auf Steine und Bäume und Schilder gemalt, aber selbst ausgerüstet mit Wanderkarten wird bald klar, dass hier eher der Weg das Ziel ist. Der führt dafür über malerische Almen, über Schieferfelsen, die bizarre Formen bilden, und durch ausladende Wacholderbüsche, wo ein Bauer die blauen Beeren erntet. „Germania?“, fragt er. „Austria“ ist die Antwort. Er lacht und zeigt auf die Beeren: „Medizin.“ Aufgrund der Abgeschiedenheit des Tals haben sich auf den Almen Dutzende Heilpflanzen erhalten, und es gibt auch einen wohlschmeckenden Bergkräutertee.

Die letzte große Wanderung soll von Vermosh ins nächste Tal nach Lepushe gehen. Von dort entweder per Autostopp retour oder mit dem Vermieter Leonardo, denn der hat auch eine Buslinie eröffnet und fährt jeden Tag nach Shkodra und zurück. Die Almwiesen leuchten gelb, braun und orange, eine Schäferin treibt ihre Herde zusammen. Der steile Anstieg zum Greben-Pass wird mit Heidelbeeren versüßt, oben bietet sich ein weiter Ausblick auf die gewaltige Bergwelt. Beschwingt geht es bergab, da unten muss Lepushe sein. Auf einem Ziehweg gibt es keine Markierungen mehr, aber wozu auch, der Weg ist ja eindeutig. Oder doch nicht? Irgendwie schlängelt er sich endlos die Bergflanken entlang, eher bergauf und die Himmelsrichtung scheint auch falsch. Kein Handyempfang, um die Position zu prüfen, nur noch ein Dreiviertelliter Wasser zu zweit und vier Stunden, bis es finster wird, also jetzt einmal quer bergab durch dichtes Gebüsch zu einem Weg weiter unten.

Man hilft gern weiter

Endlich ein Haus, davor sitzt eine alte Frau, die Heidelbeeren trocknet. Auch sie spricht nur Albanisch, doch sie winkt uns Wanderer heran, getreu der Tradition des Gastrechts in den Bergen. Auf das Tischchen vor ihrer windschiefen Hütte legt sie zwei Tischtücher, und dann bringt sie alles, was sie hat: Dosen mit Bier, Cola und ihren Heidelbeersaft. Natürlich fällt auf die Wahl auf Letzteren, und er schmeckt so gut, wie kein Saft zuvor. Dann soll eine Skizze Orientierung bringen: Vermosh, Lepushe, und dazwischen wird die gesuchte Straße eingezeichnet. Die Bäuerin lächelt freundlich, aber ob sie lesen kann? Also zurück zur Zeichensprache und plötzlich sagt sie: „Asphalt!“ Magisches Zauberwort, ja genau, das ist die neu gebaute Straße. Nicken, Daumen hoch und ganz oft „Faleminderit“, das heißt danke. Die alte Frau schenkt nochmals Heidelbeersaft ein, dann zeigt sie den Weg ins Tal.

Nach acht Stunden in den einsamen Bergen wieder Asphalt unter den Füßen. Einige Minuten später kommt das erste Auto vorbei – es ist der Bus von Leonardo. Ungläubiges Staunen und Erleichterung mischen sich mit Müdigkeit. Doch da ist noch ein stärkeres Gefühl, solch Großzügigkeit der Menschen in einem der ärmsten Staaten Europas erlebt zu haben.

WANDERN IN ALBANIEN

Infos: Albanien ist ein Land im Aufbau, einen Überblick bietet das Albanische Tourismusbüro, www.albania.al.

Empfehlenswert ist www.albanien.ch, wo Individualreisende aktuelle Infos zum Straßenzustand, zu Routen und Ausflügen finden. Im gut betreuten Forum werden Fragen prompt beantwortet.

Reiseführer sind nützlich, etwa „Albanien“ von Meike Gutzweiler im Reise-Know-how-Verlag oder Wanderführer für Thethi und Kelmend.

Anreisen: Mit dem eigenen Auto (kein Allrad nötig): von Norden über Montenegro oder von Süden von Shkodra sind es rund 100 Kilometer – auf dieser Route bietet der „Aussichtsbalkon“ am oberen Ende der Cem-Schlucht einen beeindruckenden Blick auf die Serpentinenstraße. Mit Minibussen, die täglich von Shkodra fahren.

Übernachten: etwa via booking.com: das Peraj Guesthouse oder Bujtina Vuktilaj. Das Leonard Lumaj Guest- house über Facebook. In der Nebensaison findet man auch spontan vor Ort problemlos ein Zimmer. http://albanien.ch/albanien_info/albanische-alpen-kelmend/

Wandern: Karte auf www.kelmend.info/pics/pdfs/touristicmapkelmend.pdf

Bezahlen: Lek können nur in Albanien gewechselt werden. Euro werden in der Regel gern genommen. Das Preisniveau ist sehr niedrig, daher besser kleine Scheine mitnehmen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2018)

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