"Joy": Lebensnah mit Risiko

Regisseurin Sudabeh Mortezai
Regisseurin Sudabeh MortezaiDie Presse (Carolina Frank)
  • Drucken

Regisseurin Sudabeh Mortezai wirft die Zuseher mit dem semidokumentarischen Film "Joy" in die Welt nigerianischer Prostituierter in Wien.

Mit Dokumentarfilmen über den Iran und die islamische Gesellschaft hat Sudabeh Mortezai erstmals auf sich aufmerksam gemacht und sich in das renommierte österreichische Doku-Kino eingereiht. Dann ging sie in ihrer Arbeit zu Wien und zum Spielfilm über: Auf "Macondo", das Porträt eines tschetschenischen Flüchtlingsbuben in Simmering, lässt sie nun "Joy" folgen. Die Geschichte einer nigerianischen Prostituierten in Wien, die zwischen einer autoritären Zuhälterin, Familiensorgen und Voodoo-Schwüren im System des Frauenhandels ums Durchkommen kämpft, wurde bei der Weltpremiere in Venedig zweifach ausgezeichnet. Die österreichische Premiere folgt bei der Viennale wo dieses Jahr Eva Sangiorgi die Leitung übernommen und im Programm die Unterscheidung zwischen Spiel- und Dokumentarfilmen aufgegeben hat. Eine Neuerung, die Mortezai sehr entgegenkommt. Denn die Tochter iranischer Eltern, die seit Kindesalter vorwiegend in Wien lebt, bewegt sich nicht nur biografisch zwischen Welten, sondern auch bei ihren Spielfilmen: Trotz Fiktion hat sie "Joy" erneut in semidokumentarischem Stil gedreht und zeigt so sehr authentische Einblicke in eine oft harte Realität.

Sie sind nach klassischen Dokus zum semidokumentarischen Spielfilm übergegangen. Ist dieser künstlerisch bereichernder?
Ich finde, dass jeder Dokumentarfilm letztlich auch eine Inszenierung ist und in jedem Spielfilm ein bisschen Welt steckt. Aber beim Dokumentarfilm geht es um eine Lebenswirklichkeit, der du gerecht werden willst. Der Spielfilm hat mir mehr Freiheit gegeben: zu gestalten und Dinge auch anders zu erzählen. Und gerade wenn ich nah an einem echten Thema arbeite, habe ich das Gefühl, dass Menschen mehr von sich preisgeben, wenn sie wissen, dass nicht ihr Privatleben ausgestellt, sondern eine Geschichte erzählt wird.

"Joy" erzählt von nigerianischen Prostituierten und sexueller Ausbeutung in Wien. Wie hat sich die Recherche gestaltet und wie haben Sie Ihre Darstellerinnen gefunden, die ja Laien sind?
Ich habe sehr dokumentarisch recherchiert: Bücher und Artikel gelesen, Leute von NGOs, der Polizeiabteilung gegen Menschenhandel und betroffene Frauen getroffen, ihre Erzählungen in das Drehbuch hineingenommen. Ich habe auch eine Recherchereise nach Nigeria gemacht. Als wir zum Casting aufgerufen haben, kamen sehr unterschiedliche Frauen aus der nigerianischen Community, manche hatten einen stärkeren Bezug zur Rolle, manche weniger. Mir ging es vor allem um zwei Dinge: Bringt sie eine Energie mit, die zur Geschichte passt, und kann sie als Schauspielerin überzeugen?

Auch wenn die Frauen mit ihren Filmfiguren nicht unbedingt dasselbe Schicksal teilen, sind ihre persönlichen Hintergründe eingeflossen?
Das Drehbuch hat sich nur mehr relativ wenig verändert, aber sie haben ihre Lebenserfahrung und Persönlichkeit in eigenen Dialogen und Improvisation eingebracht. Ich gebe nie Text zum Lesen und drehe chronologisch. Ich habe also immer nur die Szene eines Tages erklärt. Sie haben sich mit ihrer Filmfigur weiterentwickelt und diese verändert. Ich wollte, dass sie das einfach leben. Im echten Leben ist es ja auch so, dass wir nicht wissen, was passiert.

Der Dreh war demnach auf beiden Seiten riskant: Die Frauen wussten nicht, was sie erwartet, und Sie nicht, wie sie reagieren?
Ich liebe das Risiko. Der Film verhandelt ein hartes Thema, es geht um traumatische Dinge, aber sie haben sich darauf eingelassen. Wir haben schon einige schwierige Situationen gehabt. Heikle Sachen, zum Beispiel ob es Sexszenen geben wird, habe ich im Vorhinein besprochen. Ich wollte keinen neuen Missbrauch betreiben.

Neben wahrheitsgetreuen Sets wurde an realen Orten der Community und des Milieus gedreht. Auch die Hauptdarstellerinnen Joy und Precious heißen tatsächlich so. Sind die Namen nicht dennoch paradox in Betracht des Schicksals der Filmfiguren?
Das sind wirklich sehr typische Namen für Nigeria. Der Film hieß von Anfang an "Joy", dann kam eine echte Joy zum Casting. Ich habe ihn bewusst gewählt, weil es für mich eben eine bittere Ironie hat: Jemand mit so einem Optimismus im Namen steckt in so einem perfiden System, aus dem sie nicht herauskommt, ohne Hoffnung.

Man glaubt, Joy würde in ein anderes Leben finden, dann, sie bleibe freiwillig, wolle selbst "Madame", also Zuhälterin, werden.
Für einen freien Willen braucht man Handlungsspielräume. Weil sie keine Optionen hat, bleibt ihr nur übrig, den Spieß umzudrehen. Ich wollte zeigen, warum aus einem Opfer eine Täterin wird. Ich bin überzeugt, wir würden nicht anders handeln. Es gibt so viele Mechanismen, die sie im System halten. Auch wenn es ein Spielfilm ist, ist ihre Situation leider sehr realistisch. Einige Frauen können aussteigen, aber ich wollte wirklich den bitterbösen Weg zeigen.

Ist der Menschenhandel hier also ein unlösbares Dilemma und gerade heutzutage ein großes Problem, wo doch viele Menschen mit dem "Traum Europa" vor Augen aus Afrika flüchten?
Auf der individuellen Ebene ist es unlösbar, es müsste etwas am System verändert werden. Man muss nachdenken, auf wessen Kosten unser Lebensstil in Europa möglich ist. Nicht nur in Bezug auf Kolonialismus, sondern auch auf unser globales Wirtschaftssystem: Was für Lebensumstände bedingt es für andere? In der nigerianischen Community ist Menschenhandel leider alltäglich, jeder, der zum Casting kam, kannte das Problem. Die Frage ist: Wie kann man Ursachen bekämpfen? Auf der Ebene der Rechtsprechung und Politik könnte man einiges tun. Die Frauen kommen illegal, beantragen Asyl und dürfen nicht arbeiten in der Prostitution aber schon, ganz legal. Sie werden wahrscheinlich abgeschoben und haben dann gar keine Motivation, gegen Ausbeuter auszusagen.

"Joy" beschäftigt sich mit einem brisanten Thema in einer Randgruppe. Man beobachtet sie aber nicht distanziert, sondern aus den Augen der Prostituierten. Ist dieser Blick von innen wichtig?
Die Perspektive ist bewusst gewählt. Mich interessiert, wenn Leute nicht nur eine Statistik oder Schlagzeile sind, sondern sie ein Gesicht bekommen und man eine Geschichte und Emotionen mit ihnen erlebt sei es im Verlauf eines Films. Das ist schon ein politischer Akt.

Bleiben Sie beim semidokumentarischen Spielfilm?
Ich habe eine Arbeitsmethode gefunden, die für mich gut funktioniert. Ich habe es gern, dass man dabei in einem Team mit wenigen Leuten konzentriert, klein und wendig bleibt. Deswegen werden die nächsten Filme wohl auch in diese Richtung gehen.

Bei den Filmfestspielen von Venedig haben Sie für "Joy" nicht nur den Preis für den Besten Europäischen Film bekommen, sondern auch den als beste weibliche Regisseurin. Wie groß war Ihre Freude darüber, in einer Branche, in der Filmemacherinnen selten im Vordergrund stehen?
Der Preis wurde zum ersten Mal ausgerufen und dass ich ihn gleich bekommen habe, war mir eine besondere Ehre. Er ist ein Zeichen, um Aufmerksamkeit und Sensibilität zu schaffen. Eine wichtige Konversation hat begonnen: Was ist Qualität? Die Kriterien sind sehr subjektiv. Mir geht es darum, ohne einseitigen Blick hinzuschauen, wo es spannende, gute Filme gibt. Und dass Regisseurinnen auf Grund ihrer guten Arbeit wahrgenommen werden, und nicht, um mit Quoten zwanghaft ein Programm zu füllen.

"Joy" bei der Viennale

Sudabeh Mortezais neuer Film feiert im Rahmen der Viennale seine Österreichpremiere. 25.10. 8.11., www.viennale.at

("Die Presse-Kulturmagazin", 19.10.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.