Geschichten des Jahres 2019

Luuk van Middelaar: „Europa ist eine historische Ausnahme“

Belagerte Demokratie: Die Eurokrise rückte nicht nur das griechische Parlament ins Visier des Volkszorns.
Belagerte Demokratie: Die Eurokrise rückte nicht nur das griechische Parlament ins Visier des Volkszorns.(c) EPA (ORESTIS PANAGIOTOU)
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Der Historiker Luuk van Middelaar hat im Kabinett von EU-Ratspräsident Van Rompuy die Krisen der vergangenen zehn Jahre hautnah miterlebt. Sie legten einen Baufehler der EU offen, sagt er im Gespräch mit der „Presse“.

Geschichten des Jahres. Dieses Interview ist am 13. April 2019 erschienen.

Die Presse: Die EU war ein halbes Jahrhundert lang erfolgreich darin, einen regelbasierten Binnenmarkt und so enormen Wohlstand zu schaffen. Seit zehn Jahren kommt diese „Méthode bruxelloise“ mit großen Krisen nicht mehr zurande: Euro, Brexit, Ukraine, Migration. Wieso?

Luuk van Middelaar: Wir können seit 2008 beobachten, dass sich die Weltordnung, in der sich Europa entwickeln konnte, unter einem Schirm amerikanischen Schutzes und in einem System internationaler Institutionen, aufzulösen beginnt. 2008 war natürlich das Jahr der Bankenkrise, aber auch das Vorspiel zum Krieg in der Ukraine, nämlich mit dem Augustkrieg zwischen Georgien und Russland. Europa ist schon vorher durch viele Krisen gegangen. Aber kaum eine davon erforderte unmittelbare, weitreichende und sehr kontroversielle Entscheidungen. Die Brüsseler Regelfabrik ist nicht dafür gerüstet, mit plötzlichen Änderungen und Krisen zurande zu kommen.

Woran liegt das?

Im alten Europa der Marktorganisation ging es darum, Grenzen niederzureißen, Raum zu schaffen, einen Binnenmarkt. Es gab kein Nachdenken über die Außengrenze und darüber, wo Europa enden sollte. Wie weit sollte die Erweiterung gehen? Niemand wagte es zu sagen, dass weder Russland noch die Türkei jemals ein Teil der EU werden würden. Die EU tat so, als wären diese Fragen überholte Großmachtpolitik aus dem 19. Jahrhundert. Mit den beiden Krisen um Russland und die Migration lernte Europa jedoch, dass es Grenzen hat. Die Realität machte sich fühlbar: Die Welt um uns besteht aus souveränen Staaten, die von Männern fürs Grobe wie Putin, Erdoğan und Trump geführt werden. Europa muss einsehen, dass es eine historische Ausnahme ist, nicht die Vorhut des Weltfriedens. Der Rest der Welt wird nicht wie wir werden.

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