Israel: „Der Name Herzl ist ein Auftrag zur Menschlichkeit“

Immerhin 100 Mitglieder zählt die Großfamilie des Zionismus-Vaters im Judenstaat. Ihr streng religiöser und ihr weltlich-liberaler Flügel sind ein Abbild des Bruches in der israelischen Gesellschaft.

In der Kleinstadt Mevasseret Zion nahe Jerusalem knotet eine junge Frau kleine israelische Flaggen an die Ampel der Hauptverkehrskreuzung. „Da sehen Sie, was aus den Herzls geworden ist“, ruft Rabbi Jossi Sarid stolz: „Das ist meine Enkelin.“ Anlass für ihren zionistischen Akt ist Israels 62. Geburtstag. Der Judenstaat lässt sich feiern, wenn er auch nicht ganz so aussieht, wie es sich Rabbi Sarid wünschen würde.

Ließe sich die Geschichte zurückdrehen, wäre ihm statt Theodor Herzl als Gründer der jüdischen Nationalbewegung Rabbi Akiva Jossef Schlesinger, der in die Familie eingeheiratet hatte, deutlich lieber gewesen. Schlesinger war viele Jahre, bevor Herzl überhaupt an einen Judenstaat dachte, nach Palästina gepilgert, wo er mit seiner Idee der Selbstverwaltung der Juden aber kläglich scheiterte.

Letztendlich blieb es doch der „Ungläubige“, vor dem Schlesinger gewarnt hatte, der an der Spitze der Nationalbewegung stand und der, wie der fromme Mann prophezeite, „das Land in die Sittenlosigkeit“ führen würde. Die Spaltung der Familie mit dem orthodoxen Schlesinger und dem weltlichen Herzl setzt sich bis heute fort. Die beiden Zweige der Herzls wissen voneinander, haben aber kaum miteinander zu tun.

Rabbi Sarid, dessen Großmutter eine geborene Herzl war, kramt einen Stammbaum hervor. Eine Verwandtschaft ersten Grades mit den direkten Vorfahren Theodors liegt immerhin sieben Generationen zurück. Sehr viel leichter lässt sich die Blutsverwandtschaft bei den Schwestern Ronit und Liora Herzl zurückverfolgen. Beide sind Vertreterinnen des weltlichen Zweigs, ihr Urgroßvater und Theodor Herzls Großvater waren Cousins. Aus der Linie leben auch noch Nachfahren in Wien.

Stolz auf den berühmten Namen

Selbst wenn es keine direkten Nachfahren Theodor Herzls gibt – seine drei Kinder starben, bevor sie selbst Kinder hatten – so zählt der vor sechs Jahren gegründete „Öffentliche Rat zur Verewigung des Herzl-Erbes“ doch einhundert heute in Israel lebende Mitglieder der Großfamilie, darunter Israels Justizminister Jaakow Neeman.

Der großen Mehrheit in Israel ist Herzl durchaus noch ein Begriff. Eine Umfrage unter jüdischen 13-Jährigen, unter Soldaten und deren Eltern ergab, dass immerhin 80 Prozent in der Lage sind, Herzl den ersten Zionistenkongress zuzuschreiben. 95 Prozent konnten ihm gar das Zitat: „Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen“ zuordnen.

„Ich werde bis heute auf meinen Namen angesprochen“, sagt Liora, obwohl „Herzl inzwischen auch als Vorname recht verbreitet ist“. Über den gemeinsamen großen Namen stieß sie im Außenministerium, wo sie bis heute tätig ist, auf eine entfernte Verwandte. Wie es der Zufall will, waren beide, Liora und Towa Herzl, als Botschafterinnen für den Judenstaat im Einsatz.

Bei Lioras Schwester Ronit hängt ein Porträt Herzls an der Wand, und ihre beiden halbwüchsigen Kinder drängen darauf, nicht nur den Namen des Vaters, sondern künftig auch den Geburtsnamen der Mutter zu tragen. Den bürokratischen Hürdenlauf dafür scheuen sie nicht: „Es ist mir wichtig, Herzl zu heißen. Ich bin stolz darauf“, sagt der 13-jährige Elran. Dabei gehe es gar nicht so sehr um den Zionismus: „Wir sind auch nicht zionistischer als andere“, stimmt Ronit zu, die den Namen eher als „Auftrag zur Menschlichkeit“ empfindet.

Und doch verpflichtet der Stammbaum. Ein Herzl wird unweigerlich intensiver mit der Geschichte des Judenstaates konfrontiert. Das beginne damit, „dass wir jedes Jahr zusammen zur Askara (am Todestag, Anm.) Herzls auf den Friedhof gehen“. Dort, am Herzl-Berg, wurden die sterblichen Überreste 1949 beigesetzt.

Die beiden Schwestern verweisen auf ihre Cousine Miriam Hasenfraz, geborene Herzl, die die „wahre Zionistin“ in der Familie sei. Miriam und ihre Schwester Rachel setzten sich nach dem Zweiten Weltkrieg für die „Jugendaliyah“ ein, die dafür sorgte, vor allem Waisenkinder, die die KZ überlebt hatten, nach Israel zu bringen. Ende der 1950er-Jahre gerieten sie in den Verdacht, mithilfe der israelischen Botschaft in Rumänien, für die Rachel arbeitete, jüdischen Regimegegnern Geld zu verschaffen. Beide wurden zu zehn Jahren Haft wegen Spionage verurteilt, von denen sie zwei Jahre absaßen, bevor Israel sie freikaufte: „Zwei Jahre hatte ich keinerlei Kontakt zur Außenwelt“, erinnert sich Miriam.

Während der religiöse Zweig der Familie überwiegend erst nach dem Krieg einwanderte, waren die Herzls um die Jahrhundertwende nach Palästina gezogen. Schon 1879, als der junge Theodor noch bei der Wiener Burschenschaft „Albia“ war, warnte der religiöse Visionär Rabbi Schlesinger vor der „Gefahr eines weltlichen Judenstaates“. Seiner Zeit viel zu weit voraus, zweifelte er nicht, dass es einen Staat geben werde. 200 Unterschriften habe er von jüdischen Gemeinden in Europa gesammelt, doch als er beim Oberrabbiner im Osmanischen Reich vorsprach, „fiel dem nichts besseres ein, als die Briefe in kleine Stücke zu zerreißen“, sagt Rabbi Sarid betrübt.

Religiöse auf dem Vormarsch

Die Sorge des Oberrabbiners habe den Juden in Palästina gegolten, die mit dem Versuch, sich autonom zu machen, vielleicht in Gefahr geraten wären. „Die Juden lebten in bescheidenen, aber geordneten Verhältnissen“, erklärt Sarid: „Jede Veränderung hätte eine Veränderung zum Schlechten sein können.“ Sarid, der „nie einen Fuß über die Grenzen“ gesetzt hat, findet, dass Israel ein „jüdischerer“ Staat sein müsse. Das ist vermutlich nur eine Frage der Zeit: Während die fromme Kernfamilie des Rabbis heute mehr als 60 Menschen umfasst, sind es bei den weltlichen Schwestern Ronit und Liora nur neun.

Ob Herzl selbst zufrieden mit dem Ergebnis wäre, könnte er heute einen Blick auf Israel tun? „Ihr wollt nicht? Nicht nötig“, hat ein Witzbold unter das Bild Herzls am Tel Aviver Rathausplatz geschrieben. Immerhin habe Herzl sein Ziel erreicht, meint Liora. Heute leben mehr Juden in Israel als in jedem anderen Land: „Israel hat vielen von uns die Gelegenheit gegeben, mit einem Selbstwertgefühl zu leben, das für uns in anderen Teilen der Welt nicht immer selbstverständlich war. Das hieße jedoch nicht, dass keine Veränderungen nötig seien, gerade im Verhältnis zu unseren Nachbarn.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2010)

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