Ukraine: Selenskij schritt ins Amt – und zur Tat

Filmreif: Wolodymyr Selenskij nach seiner gestrigen Vereidigung als neuer Präsident der Ukraine.
Filmreif: Wolodymyr Selenskij nach seiner gestrigen Vereidigung als neuer Präsident der Ukraine.(c) APA/AFP/GENYA SAVILOV
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Zu seiner Inauguration kam der Präsident zu Fuß – und löste kurz darauf das Parlament auf. Er setzt auf Einigkeit: „Wir sind alle Ukrainer.“

Kiew/Moskau. Wolodymyr Selenskij kam zu seiner Angelobung wie noch kein ukrainischer Präsident vor ihm: zu Fuß. Der 41-Jährige, der vor einem Monat mit großer Mehrheit zum neuen Staatschef gewählt worden war, schritt unter der Frühlingssonne und dem Jubel seiner Anhänger auf die Rada zu. Durch ein Spalier von Applaudierenden eilend, gab er in einem fort High Fives und posierte für Selfies.

Drinnen im Plenarsaal warteten Abgeordnete und die komplette Regierungsmannschaft, religiöse Würdenträger und ausländische Gäste, darunter US-Ukraine-Beauftragter Kurt Volker, die Staatschefs Ungarns und Georgiens, sowie die komplette Präsidentenriege des Baltikums – Estlands Kersti Kalujid, Lettlands Raimonds Vejonis und Litauens scheidende Dalia Grybauskaitė.

„Von Uschhorod bis Luhansk“

Selenskij verlor nach dem Ablegen des Amtseides keine Zeit: Als erste machtvolle Geste löste er das Parlament auf und öffnete damit den Weg für Neuwahlen, die am 21. oder am 28. Juli stattfinden sollen, wie am Dienstag nach einer Sitzung bekannt wurde. „Sie haben zwei Monate zum Arbeiten“, sagte er und rief die Abgeordneten auf, schnellstmöglich mehrere Gesetzesvorschläge anzunehmen. Im Wahlkampf hatte der Ex-Komiker damit geworben, die Immunität der Abgeordneten aufzuheben sowie offene Parteilisten einzuführen. Zudem will er Geheimdienstchef und Generalstaatsanwalt entlassen, neue Minister für Äußeres und Verteidigung ernennen.

Einige ranghohe Politiker sind ihrer Ablöse bereits zuvorgekommen. Außenminister Pawlo Klimkin erklärte seinen Rücktritt, ebenso Verteidigungsminister Stepan Poltorak. Selenskij legte am Montag der gesamten Regierung den Rücktritt nahe. „Sie sollten an die Zukunft des Landes denken, nicht an die nächsten Wahlen.“ In der Regierungsbank sorgte seine Standpauke zeitweise für Kopfschütteln. Die Miene von Premier Wolodymyr Hroisman war eisig.

Tadel setzte es für die Politiker, Lob für die Ukrainer. In einer bewegenden Rede positionierte sich Selenskij als Präsident aller Bürger und betonte die geteilte Verantwortung für die Zukunft des Landes. Da war er wieder, der sympathische Darsteller aus der TV-Serie „Diener des Volkes“, die Selenskij nun auch im realen Leben an die Spitze des Staates geführt hat. „Jeder von uns ist Präsident. Jeder trägt die Verantwortung für die Ukraine, die wir unseren Kindern hinterlassen.“ Europa, das sei kein ferner Ort, sondern „hier“, erinnerte Selenskij und deutete auf seinen Kopf. Bürger im Ausland rief er zur Rückkehr auf und versprach eine erleichterte Ausgabe von Staatsbürgerschaften. „Wir benötigen euer Wissen.“

Mehrmals wechselte Selenskij zwischen den Sprachen Russisch und Ukrainisch, was im Plenum für Unruhe sorgte. Er wendete sich an die Bevölkerung in den Separatistengebieten, deren Seelen man verloren habe. Selenskij schwor aber auch, keine abtrünnigen Territorien aufgeben zu wollen. „Wir sind alle Ukrainer. Von Uschhorod bis Luhansk, von Tschernihiw bis Simferopol.“ Er sei bereit, alles für den Frieden tun zu wollen, „auch meinen Posten zu verlieren“.

Wie schon bei früheren Auftritten betonte der 41-Jährige das Gemeinsame, nicht das Trennende. Poroschenko bezeichnete den Kreml stets direkt als Feind, nannte Russland den „Aggressor-Staat“ und setzte auf Rhetorik der Stärke. Selenskij dagegen vermeidet klare Schuldzuweisungen. Seine Rhetorik ist inklusiv und weicher; er vermeidet Schuldzuweisungen.

Der Kreml gratulierte nicht

Am Montag sprach er von der Notwendigkeit des Dialogs mit dem Kreml, nannte aber als Bedingung die Freilassung aller ukrainischen Gefangenen durch Russland. „Ich bin sicher, man hört uns zu.“ Apropos Kreml: Der werde zur Amtseinführung nicht gratulieren, hieß es aus Moskau. Seit der Ausgabe russischer Pässe für Bürger aus den Separatistengebieten haben sich die Spannungen zwischen den Nachbarn wieder verstärkt. Selenskij parierte Moskaus Schritt unlängst geschickt und mit der ihm eigenen Ironie: Die Ukrainer hätten keinen Bedarf an Pässen eines Landes, in dem die Rechte der Bürger mit Füßen getreten würden. Die Ukraine habe heute mit Russland nichts gemein „außer der gemeinsamen Grenze“.

Das Parlament zollte dem frisch gekürten Präsidenten immer wieder Applaus – ein Punktesieg für Selenskij nach den letzten Wochen des Tauziehens. Der Präsident steht am Beginn einer Mammutaufgabe. Er muss beweisen, dass er ein eigenständiger Politiker ist und mit dem widerständigen Parlament einen Modus operandi finden; gesellschaftlich muss er einen Ausgleich zwischen den Nationalkonservativen und weniger Nationalbewussten suchen. Seine bisherige Mission sei es gewesen, Lacher zu verbreiten, sagte Selenskij gestern. „Jetzt will ich alles tun, um die Ukrainer zumindest nicht zum Weinen zu bringen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2019)

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