Israel auf dem Weg zu Neuwahlen

Benjamin Netanjahu hat das Limit für die Regierungsbildung von sechs Wochen fast ausgeschöpft.
Benjamin Netanjahu hat das Limit für die Regierungsbildung von sechs Wochen fast ausgeschöpft.(c) REUTERS (POOL)
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In einer Vorabstimmung stimmte die Knesset mehrheitlich für ihre Auflösung. Grund dafür sind die unerwartet großen Probleme bei der Regierungsbildung.

Jerusalem. Im israelischen Parlament (Knesset) haben am Montag 65 von 120 Abgeordneten auf Antrag der rechtskonservativen Likudpartei von Regierungschef Benjamin Netanjahu für eine vorzeitige Auflösung gestimmt. Grund sind die Schwierigkeiten, die Netanjahu seit der Parlamentswahl am 9. April bei der Bildung einer neuen Koalitionsregierung hat. Damit könnte Israel vor der zweiten Parlamentswahl binnen eines Jahres stehen.

Netanjahu muss bis Mittwochmitternacht eine Koalition zusammenzimmern. Gestern erklärte er, dass er weiter versuchen werde, bis dahin eine funktionierende Regierung zu formen. Größtes Hindernis auf dem Weg zur fünften Amtszeit ist Avigdor Lieberman, Ex-Verteidigungsminister und Chef der nationalkonservativen Partei Israel Beitenu. Gleiche Rechte und gleiche Pflichten, lautet Liebermans Motto. Hartnäckig fordert er, dass auch ultraorthodoxe Juden zum Wehrdienst eingezogen werden.

Immunität als Ausweg

Einschränkungen und Erleichterungen für die jungen frommen Männer machen umgekehrt die beiden ultraorthodoxen Parteien, Schass und Vereintes Tora-Judentum, zur Bedingung für ihre Beteiligung an einer Koalition. Beide Seiten sind schwer unter einen Hut zu bringen, doch beide braucht Netanjahu für eine Regierungsmehrheit. Sollte er bis Mittwoch keine Resultate erzielen, scheinen Neuwahlen unabwendbar.
Die Opposition kann schon jetzt jubeln. Am Samstagabend gelang es den Wahlverlierern, die Massen gegen Netanjahu mobilzumachen. Zigtausende drängelten sich in Tel Aviv, um ihrer Sorge um die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Luft zu machen und ihren Protest gegen den Regierungschef zum Ausdruck zu bringen, dem drei Korruptionsverfahren drohen.

Netanjahus einzige Chance, den Gerichtsprozessen zu entkommen, ist eine erneute Amtszeit als Premier – gepaart mit einer Gesetzesreform, die ihm Immunität verschaffen würde. Er steht unter dem Verdacht des Betrugs, der Korruption und des Vertrauensbruchs.

Noch vor Beginn der Gerichtsverfahren muss es Anhörungen geben. Da werde sich zeigen, so meinte Netanjahu, dass die Anschuldigungen gegen ihn nicht haltbar seien. Polizei und Oberstaatsanwalt sehen das anders. Trotz der Vorwürfe erreichte Netanjahus Likud-Partei bei den Wahlen im April ein Patt mit der Opposition Blau-Weiß unter der Führung des ehemaligen Generalstabschefs Benny Gantz. Beide Parteien gingen mit jeweils 35 Mandaten der insgesamt 120 Sitze in der Knesset aus der Wahl hervor.

Die Gegner des seit 2006 regierenden Netanjahu fanden sich außerhalb des Parlaments. Seit den Sozialprotesten vor sieben Jahren hat es in Israel keine so umfangreiche Protestaktion gegeben. „Die Demonstration macht der Periode nach der Wahl ein Ende, in der die Opposition in ein Koma gefallen zu sein schien“, schrieb ein Kommentator in der liberalen Zeitung „Haaretz“. Alle Parteien der Mitte und links davon waren vertreten.

„De-facto-Autokratie“

„Es geht um den Kampf um unser Heim“, rief Benny Gantz. „Es gibt jemanden, der die Demokratie durch eine De-facto-Autokratie ersetzen will.“ Das Immunitätsgesetz für den Regierungschef ist nur ein Kritikpunkt. Den Parlamentariern liegt ein Reformvorschlag zur Abstimmung vor, der dem Obersten Gerichtshof die Macht nehmen würde, verfassungswidrige Gesetze aufzuheben. Viele der Demonstranten trugen einen Fes und zogen Parallelen zwischen Netanjahu und dem türkischen Präsidenten Erdoğan. Der Likud reagierte auf Facebook empört auf die „Demonstration der Linken“.

Sollte Netanjahu mit der Regierungsbildung scheitern, könnte Präsident Rivlin sogleich Gantz den Auftrag erteilen. Für den Chef von Blau-Weiß stehen indes die Chancen, die Orthodoxen zur Kooperation zu bewegen – ohne die es nicht geht – miserabel. Blau-Weiß steht nicht nur für die Wehrpflicht auch für die Frommen, sondern propagiert auch öffentlichen Verkehr am Sabbat und liberale Familienrechte für Homosexuelle.

AUF EINEN BLICK

Koalitionsgespräche. Nach der Wahl am 9. April betraute Präsident Reuven Rivlin Premier Benjamin Netanjahu, den Chef der stimmenstärksten Partei, mit der Regierungsbildung. Nach Ablauf einer vierwöchigen Frist beantragte Netanjahu eine zweiwöchige Verlängerung, die Mittwochnacht ausläuft. Knackpunkt ist die Ausnahmeregelung für Ultraorthodoxe für den dreijährigen Militärdienst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2019)

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