Mit Konservatismus hat der Brexit herzlich wenig zu tun

Die britische Mehrheitsdemokratie steckt in Schwierigkeiten, weil die Traditionsparteien von revolutionären Heißspornen gekapert worden sind.

Wie es der kosmische Zufall will, steht uns heuer in gleich dreifacher Hinsicht ein heißer Sommer der angewandten Staatstheorie bevor. Nach dem ersten erfolgreichen Misstrauensantrag gegen eine Bundesregierung in der Nachkriegsgeschichte hospitiert am Ballhausplatz ein Kabinett der Experten. Die EU muss mit einem fragmentierten Europaparlament umgehen lernen, in dem das Spiel der demokratischen Kräfte freier und unvorhersehbarer sein wird als bisher. Und in Großbritannien pflügt der Brexit die über Jahrhunderte gewachsene und liebevoll gepflegte politische Landschaft brachial um. Wie die Geschichte in Österreich und in der Union ausgehen wird, lässt sich derzeit nur erahnen. Jenseits des Ärmelkanals jedoch sind die ersten Folgen des Experiments bereits sichtbar. Und dieser Anblick ist alles andere als schön.

Die Amputation der britischen Inseln von Europa wurde von den regierenden Tories an einem narkotisierten Patienten vorgenommen. Von der Aussicht auf ein ewig währendes All-you-can-eat-Kuchenbuffet berauscht, stimmten die Briten für den Austritt aus der EU. Die Narkose wirkt nach wie vor: Noch ist Großbritannien Teil der Union, noch hat es Zugang zum europäischen Binnenmarkt, noch müssen an den Grenzen keine Zölle entrichtet werden. Doch dieses Betäubungsmittel wird am 31. Oktober abklingen. Dann nämlich läuft die Austrittsfrist ab, und die Briten kommen nicht um eine Entscheidung herum: Treten sie in der Tat aus, machen sie einen Rückzieher – oder verlängern sie den Zustand der Betäubung durch einen weiteren Aufschub?

Die Verantwortung für diese Entscheidung obliegt dem Nachfolger von Premierministerin Theresa May, die nach ihrem gestrigen Rücktritt von der Spitze der Conservative and Unionist Party – so der hochoffizielle Name der Tories – die Downing Street 10 Ende Juli räumen wird. Diesen offiziellen Namen sollte man unter Anführungszeichen setzen, denn die Tories sind mittlerweile weder konservativ noch geeint: Von einem geradezu jakobinischen Furor gepackt, versuchen sich die Kandidaten um die Nachfolge Mays in Härte gegenüber Brüssel und Verachtung gegenüber organisch gewachsenen Banden mit Europa zu überbieten. Gewinnen wird der Kandidat mit der längsten Brechstange – nach jetzigem Stand der Dinge Ex-Außenminister Boris Johnson, die wuschelköpfige Galionsfigur des Brexit. Sein bisheriges Geschäftsgebaren ähnelt dem Flug einer sorglosen Hummel, die selbstzufrieden von Blüte zu Blüte brummelt. Johnsons Performance als Politiker hat ohne Zweifel ästhetische Qualitäten und Unterhaltungswert. Mit aufrichtigem Konservatismus, der Rationalität, respektvollen Umgang mit dem Status quo und Skepsis gegenüber revolutionären Heilsversprechen beinhaltet, hat sie herzlich wenig zu tun.


Womit wir wieder bei der eingangs erwähnten Staatslehre wären. Großbritannien galt diesbezüglich stets als Vorbild, weil die britische Mehrheitsdemokratie erstens stabile Verhältnisse, zweitens Regierungen mit klarem Auftrag und drittens gesunde Konkurrenz zwischen den Parteien produzierte. Doch dieses System bekommt Probleme, wenn die Parteien von Revoluzzern gekapert werden. In den USA bieten die Republikaner unter Donald Trump diesbezüglich reiches Anschauungsmaterial.

Das fundamentale Problem Großbritanniens ist nicht so sehr der Brexit – der ist zwar teuer und sinnlos, aber technisch machbar. Es ist die Tatsache, dass weder die Brexit-besessenen Tories noch die sozialistischen Nachahmungstäter von der Labour Party die Gesellschaft abbilden. Im Gegenteil: Sie spalten sie.

Mit ihrem Vorgehen riskieren die „Konservativen“ eine handfeste Verfassungskrise. Denn ihr Wunsch nach dem Abfackeln aller Brücken nach Europa entspricht weder den Mehrheitsverhältnissen im Unterhaus noch dem Auftrag der Wähler. Aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint das mitteleuropäische Regierungsmodell mit seiner Pflicht zum koalitionären Kuhhandel plötzlich in einem günstigeren Licht. Ja, es ist lästig, sich die Macht mit der Konkurrenz teilen zu müssen. So viel Action wie in London muss allerdings auch nicht sein.

E-Mails an:michael.laczynski@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.06.2019)

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