Im wilden Osten Indiens: Vergessener Bürgerkrieg

wilden Osten Indiens
wilden Osten Indiens(c) AP (Mustafa Quraishi)
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In einem vergessenen Bürgerkrieg kämpfen in Indien Maoisten und Ureinwohner gegen den Staat. Die Aufständischen bilden nach den Taliban die zweitgrößte Guerillaarmee der Welt.

Konta hat zwei staubige Straßenkreuzungen, ein Internet-Café ohne funktionierenden Netzanschluss, aber mit Eisverkauf, zwei Obstgeschäfte und eine Teebude. Konta ist das letzte zivilisierte Dorf vor der Grenze zum Dschungel im ostindischen Bundesstaat Chhattisgarh. Bis zur nächsten Großstadt Hyderabad sind es zwölf Autostunden. Die Teebude in Konta wird von einer lebhaften Frau aus Bengalen geführt. „Fahren Sie nicht weiter! Im Dschungel herrschen die Maoisten. Sie schießen“, sagt sie und gießt süßen Tee mit Milch ein. Ein großer Laster fährt vorbei, der Elektrizitätsmasten geladen hat. Er bringt die Zivilisation. „Er kommt nur bis Konta“, sagt die Bengalin.

In Indiens wildem Osten herrschen Verhältnisse wie im Wilden Westen. Hier kämpft die zukünftige Supermacht gegen seine Ureinwohner und die Maoisten. Ihr Kampf ist heute blutiger denn je. Weit hinter Konta in den Bergen, im dichten Dschungel, nach weiteren acht Stunden auf kaum befahrbarer Geröllpiste, erreicht man Chintalnar. Auf einer freigeschlagenen Anhöhe befinden sich ein schwer bewaffnetes Polizeilager und zwei Dutzend kleine Hütten von Siedlern aus Nordindien. Mehr nicht.

Chintalnar steht seit dem 6. April für das Waterloo Indiens im Kampf gegen die Maoisten. Erst im vergangenen November rief die Regierung in Delhi eine Großoffensive ihrer paramilitärischen Polizeieinheiten (Central Reserve Police Force, CRPF) gegen die seit 43 Jahren im Dschungel kämpfenden Aufständischen aus. Seither kämpfen 200.000 CRPF-Truppen hauptsächlich in den östlichen Bundesstaaten Chhattisgarh, Jharkhand, Orissa und West-Bengalen gegen die Maoisten. In diesen Staaten liegt der Großteil von Indiens immensen Bodenschätzen. Die Kampfschauplätze sind deshalb oft Bergbaugegenden, in denen die Guerilla im Namen der Ureinwohner gegen Polizei und Konzerne antritt. Nicht so in Chintalnar.

Hier ist die Natur noch unberührt. Gerade hier schlug die Dschungel-Guerilla zurück, stärker, professioneller und rücksichtsloser als je zuvor. Eine Stunde Fußmarsch von Chintalnar entfernt töteten sie am 6. April 76 Polizisten in einem Hinterhalt, ihr tödlichster Angriff seit ihren ersten Anschlägen 1967. Die Maoisten hatten die Polizisten drei Tage lang unbemerkt verfolgt und Landminen verlegt. „Das war hoch professionell“, sagt der neue Lagerkommandant in Chintalnar in geschliffenem Oxford English. Er trägt einen Trainingsanzug und stellt sich mit seinen Initialien vor: SK. SK wurde am 7. April von einem Armeehubschrauber über Chintalnar abgeseilt. Sein Vorgänger starb am 6. April.

Früher war die CRPF im Grenzkrieg gegen China und im Krieg gegen Pakistan im Einsatz. Aber nie wurde sie so gedemütigt wie jetzt in Chintalnar. Wie konnte das passieren? Was macht Indiens Maoisten heute nach den Taliban zur zweitstärksten Guerillabewegung der Welt? Warum verfängt der Maoismus gerade im aufstrebenden Wirtschaftswunderland Indien?


Wald der Dämonen. Chintalnar liegt inmitten des größten Dschungels des Subkontinents. Seine Fläche erstreckt sich über 90.000 Quadratkilometer. Die Inder nennen ihn Dandakaranya, „Wald der Dämonen“. Laut alten hinduistischen Sagen verbergen sich hier die Teufelsgötter. Kein Tourist verläuft sich hierher, nur selten ein Tierschützer. Deshalb bietet der Wald der Guerilla besten Schutz. Er ist „befreites Gebiet“, sagen die Maoisten. So groß wie Österreich.

Aber im Grunde gehört der Wald den „Adivasi“, den „ersten Bewohnern“, wie sich die Ureinwohner nennen. Nahe Chintalnar gehen ein paar Dutzend Adivasi fischen. Sie steigen mit handtuchgroßen Netzen in die Tümpel der Wasserbüffel. Bald liegt ein meterhoher Haufen Fisch vor ihnen. Sie teilen ihn in winzige Häuflein. „Es kommt nicht darauf an, wer wie viel gefischt hat. Jeder bekommt die gleiche Menge“, sagt ein junger Adivasi. Als herrsche im Dandakaranya noch eine Art Urgerechtigkeit. Dabei wurden die Adivasi in den letzten 200 Jahren von Indiens Herrschern bekämpft, vertrieben, gemordet. Aber sie haben überlebt, in großer Zahl. Hunderttausende, wenn nicht Millionen bevölkern allein den Dandakaranya. Der undurchdringliche Dschungel bietet auch ihnen Schutz.

Entlang der steinigen Fahrbahn nach Chintalnar zieht eine Familie vom Stamm der Koya. Die Frauen tragen Saris und Körbe voller gelber Mahuwablüten auf dem Kopf. Die Männer tragen Lendenschurze und Äxte. Sie ziehen ins nächste Dorf, um ihre Blüten zu verkaufen, aus denen Schnaps gemacht wird. Mehr hat der Dschungel jetzt nicht zu bieten. Die Blüten bringen umgerechnet 20 Cent pro Kilo. Nicht genug, um für die Familie ausreichend Reis zu kaufen.

Nirgendwo sind Hunger und Unterernährung in Indien größer als unter den Ureinwohnern. Wie die Kaste der Unberührbaren gelten sie für viele Inder immer noch als Untermenschen. Die Maoisten ziehen die Aktiven und Kreativen unter den Ureinwohnern an. Der Großteil der Waldbewohner steht aber zwischen allen Fronten. Die Ureinwohner sind vorsichtig. Sie fürchten dieser Tage die Rache der Polizei. Sie sehen sich im Verdacht, den Maoisten geholfen zu haben. Sonst machen sie sich an Markttagen zu Tausenden in die Dörfer auf. An diesem Tag aber sind nur wenige Familien unterwegs.


Flucht zur Guerilla. Im Umkreis von vielen Kilometern rund um Chintalnar stehen die Hütten der Waldbewohner seit dem 6. April leer. Sie sind notdürftig verbarrikadiert, auf den Bambuszäunen hängt Wäsche. Die Menschen haben ihre Behausungen fluchtartig verlassen und sich in die von der Guerilla kontrollierten Gebiete zurückgezogen. Im Zweifel trauen sie den Maoisten mehr als der Polizei. Gut möglich, dass es stimmt, wenn der Lagerkommandant in Chintalnar sagt, dass Ureinwohner die getöteten CRPF-Truppen verraten haben.

Nur wenige Adivasi sind den Polizeikräften treu. Es sind meist die Familien derjenigen, die sich den Polizeimilizen angeschlossen haben, die mit der CRPF im Urwald leben. Vor fünf Jahren begann die Regierung in Chhattisgarh junge Ureinwohner als Milizionäre anzuheuern. Viele gaben schnell auf, weil sie die Überlegenheit der Guerilla zu spüren bekamen. Manche kämpften weiter, wie der 23-jährige Ajay Kumar. Er nennt sich „Sonderpolizeibeamter“, trägt ein blaues Sporthemd, schwarze Hosen und Turnschuhe. Die meisten Ureinwohner haben nur Lumpen und Lendenschurze. Doch Kumar bezieht ein Polizeigehalt. Dafür soll er seine Stammesgenossen bestrafen, die die Maoisten unterstützen.

Die Milizen sind bekannt für Raub, Mord und Vergewaltigungen unter den Ureinwohnern. Kumar kennt die Vorwürfe. Ihn hat das Schicksal zum „Sonderpolizisten“ gemacht: Erst verschleppte ihn die Polizei zum Verhör, weil sie glaubte, er habe den Maoisten geholfen. Dann kamen die Maoisten und töteten seinen Vater, weil sie dachten, sein Sohn sei zur Polizei übergelaufen. Als Kumar ins Dorf zurückkam, ohne etwas über die Maoisten verraten zu haben, blieb ihm nichts übrig, als sich den Milizen anzuschließen: „Sie hatten meinen Vater mit Stöcken vor allen anderen im Dorf totgeschlagen.“


„Hier beginnt die Hölle.“ Wie mächtig die Guerilla wirklich ist, zeigt sie nach außen nicht. Stattdessen baut sie Drohkulissen auf. Diesen Zweck erfüllte auch das Massaker vom 6. April. Chintalnar ist heute der meistgefürchtete Ort des Landes. Doch die Angst ist nicht unbegründet. 2009 kosteten Angriffe der Maoisten landesweit tausend Menschenleben. Die Guerilla ist straff organisiert unter Politbüro und Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Indiens, maoistischer Zweig (CPI-m). Das Parteiziel: die Eroberung ganz Indiens. Die CPI-m zählt 14.000 gut trainierte Kämpfer und 50.000 parteitreue bewaffnete Milizen. Sie ist die derzeit stärkste Revolutionsarmee der Welt nach den Taliban und in 22 von 28 Bundesstaaten aktiv (2004 waren es nur neun).

„Willkommen im Himmel“, steht auf einem Schild vor dem Polizeilager Chintafuga. „Täuschen Sie sich nicht! Hier beginnt die Hölle. Drehen Sie um!“, sagt ein Polizist. Schließlich macht sich die Guerilla selbst bemerkbar. Vor Chintalnar blockiert ein gefällter Baum die Straße. Etwas weiter haben die Maoisten frische tiefe Gräben durch die Fahrbahn gezogen. Sie demonstrieren: Hier beginnt unser Reich! Dann liegt ein zerbombter Panzerwagen auf der Straße. Eine Warnung an die, die ohne Einladung weiterfahren.

In Chintalnar haben sich neben dem CRPF-Lager schon vor dreißig Jahren zwei Dutzend indische Familien niedergelassen, die seither von kleinen Geschäften mit den Adivasi leben. Sie werden auch von der Guerilla toleriert. Die Händler erzählen, wie sie früher im guten Verhältnis mit den Ureinwohnern Handel betrieben hätten. „Aber seit dem 6. April können wir uns nicht mehr über den Weg trauen. Ein Wort zu viel, und man ist tot“, sagt ein Mann, der den Reporter für eine Nacht aufnimmt. Seine Frau weckt den Gast am nächsten Morgen aufgeregt. Sie führt ihn an den Rand des Waldes. Dort liegen vier weiße Plakate im Sand, die mit dickem roten Filzstift beschrieben sind. „Revolutionäre Grüße“ der Maoisten. Auf den Plakaten erheben sie viele Thesen und Forderungen: „Die Polizisten und Milizen, die unschuldige Ureinwohner töten, sind Mörder und keine Beschützer des Volkes“, steht da. Oder: „Die wahren Patrioten des Landes sind Maoisten.“

Die Plakate sehen aus wie von braven Schulkindern gemalt. Doch sie sind Zeugnisse eines brutalen Dschungelkrieges. Der neue Kommandant im Lager von Chintalnar, der Elitemann aus Delhi, lässt keinen Zweifel: „Wir befinden uns im Mittelpunkt des befreiten Gebiets, am Nabel der Maoisten. Aber wir werden zurückschlagen.“ Sein Feind draußen im Wald scheint nicht weniger entschlossen.

Bis 1800
leben Indiens Ureinwohner (Selbstbezeichnung „Adivasi“, Hindi für „erste Bewohner“) versteckt im Dschungel der jeweiligen König-tümer; ihre Stämme bleiben unabhängig.

Im 19. Jahrhundert
ordnet die britische Kolonialmacht die Stämme ihrer Verwaltung unter, Wälder werden verpachtet. Die nur mit Pfeil und Bogen bewaffneten Adivasi starten Aufstände.

1878 und 1927:
Die erste indischen Waldgesetze sprechen die von Ureinwohnern bewohnten Wälder dem Staat zu.

1947: Der neue unabhängige indische Staat gewährt den Ureinwohnern die vollen Bürgerrechte, ändert aber nichts an ihren verlorenen Waldrechten.

1950: Die neue Verfassung sichert den Adivasi Quoten in Parlamenten, an Universitäten und in Regierungsämtern; an ihrer alltäglichen Diskriminierung ändert sich wenig.

1967: Der Stamm der Santhal beteiligt sich am ersten Aufstand der Maoisten in Naxalbari, West-Bengalen.

1965 bis 1966:Charu Majumdar verfasst „historische acht Dokumente“ – die Theorie des indischen Maoismus und des Guerillakampfes.

1967:Majumdar führt Bauernaufstand im Dorf Naxalbari in Darjeeling in West-Bengalen. Seither heißen die Maoisten auch Naxaliten.

1972:
Majumdar stirbt in Polizeihaft.

1981 bis 2004: Aufbau maoistischer Parteistrukturen in Ureinwohnergebieten. Aufbau der Maoisten-Hochburg im Dandakaranya-Dschungel.

2004: Gründung der KPI (Maoistisch) unter Beteiligung aller Guerillagruppen.

2005: Scheitern der Friedensgespräche zwischen KPI-M und der Regierung des Bundesstaates Andhra-Pradesh.

2006: Premier Manhoman Singh nennt die Maoisten „die größte innere Bedrohung Indiens“.

2009: Maoistische Angriffe fordern 1000 Opfer, Ausbreitung „befreiter Gebiete“ in West-Bengalen.

November 2009:Regierungsoffensive „Green Hunt“.

6. April 2010: 76 Polizisten sterben bei bisher tödlichstem Anschlag der Maoisten in Chintalnar im Dandakaranya-Dschungel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2010)

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