Merkel sollte sich und ihre Amtszeit nicht länger überstrapazieren

Die deutsche Kanzlerin trickste ihre Zitterattacken aus. Sie blieb bei der Hymne einfach sitzen. Für Deutschland allerdings ist Aussitzen keine Zukunftsoption.

Angela Merkel sitzt ihre Krisen aus. Das war nie augenfälliger als am Donnerstag im Ehrenhof ihres Amtssitzes. Die deutsche Bundeskanzlerin ließ sich Stühle bringen, um beim Empfang für die dänische Ministerpräsidentin, Mette Frederiksen, nicht wieder vor aller Welt unkontrolliert am ganzen Körper zu zittern. Dreimal hatte Merkel in den vergangenen drei Wochen einen Tremoranfall erlitten. Und jedes Mal erwischte es sie, während sie mit einem Gast aus dem Ausland beim Abspielen bei der Nationalhymne strammstehen musste, zuletzt am Mittwoch neben dem finnischen Premier, Antti Rinne.

Derlei verstörende Bilder wollte die mächtigste Frau Europas nicht mehr liefern. Ihr psychologischer Protokolltrick gelang: Merkel zeigte keine Regung, als sie mit der Sozialdemokratin aus Aalborg den feierlichen Tönen Haydns sitzend lauschte. Die Erleichterung danach war ihr anzusehen. Es sei ihr von Herzen gegönnt, einen Ausweg aus der für sie sicher unangenehmen Situation gefunden zu haben.

Die aufkeimende Debatte über ihre Gesundheit ist damit entschärft, aber nicht vom Tisch. Bei allem Verständnis für die Privatsphäre, die auch Merkel zusteht, wird die deutsche Öffentlichkeit auf ihr Recht pochen zu erfahren, wie es um ihre Regierungschefin bestellt ist. Um Zweifel an ihrer Amtsfähigkeit auszuräumen, sollte die deutsche Kanzlerin deshalb rasch ein ärztliches Bulletin vorlegen. Im Zeitalter der rasenden Umdrehungszahl halb garer Gerüchte in sozialen Medien reicht es nicht, wenn Merkel beteuert, dass man sich keine Sorgen machen müsse.

Doch auch abgesehen von den Zitterattacken, die Merkel nun hoffentlich überwunden hat, sollte sie sich anlässlich ihres 65. Geburtstags am kommenden Mittwoch oder danach während ihres Urlaubs ernsthaft fragen, ob sie ihrem Land nach fast 14 Jahren im Bundeskanzleramt wirklich noch bis 2021 dienen will. Die eine Hälfte der Macht, ihren Vorsitz in der CDU, hat sie bereits abgegeben. Es wird Zeit, dass Merkel sich auch von der anderen Hälfte trennt. Sie hat zweifellos viel für ihr Land geleistet. Keine amtierende Politikerin in Europa genießt unter dem Strich mehr Ansehen als sie, auch wenn viele ihre Laisser-faire-Haltung während der Flüchtlingskrise 2015 zu Recht zu den folgenreichsten Fehlern der jüngeren Vergangenheit zählen. Deutschland schwimmt in Steuerüberschüssen, die Arbeitslosigkeit liegt mit fünf Prozent unter dem EU-Schnitt.

Doch die Erfolge können nicht übertünchen, dass Deutschland an Elan verloren hat. Und das hängt mit Merkels müder Großer Koalition zusammen. Das Land braucht eine grundlegende Erneuerung: vom Strom- und Handynetz über die Schulgebäude, Straßen und Geschäftsmodelle veraltender Schlüsselindustrien bis hin zur Regierungsspitze.

Auch in der EU schwindet Merkels Durchsetzungskraft, sogar in der EVP. Die eigene Gesinnungsgemeinschaft reagierte mit offener Ablehnung darauf, dass Merkel den EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber nahezu kampflos fallen ließ und glaubte, mit Frankreichs Präsidenten, Emmanuel Macron, den Sozialdemokraten Frans Timmermans als EU-Kommissionspräsidenten durchdrücken zu können. Ob der spektakuläre Hütchentrick aufgeht, ihre zuletzt glücklose CDU-Selbstverteidigungsministerin Ursula von der Leyen nach Brüssel zu verfrachten, muss sich erst weisen. Sie könnte am Widerstand scheitern, den ausgerechnet Merkels sozialdemokratische Koalitionspartner im EU-Parlament organisieren.

Fällt von der Leyen durch, wackelt wieder einmal die Koalition in Berlin. Das Einzige, was das ermattete Bündnis abermals zusammenhalten könnte, ist die gemeinsame Angst vor Neuwahlen. Die SPD ist derzeit führungslos, und die Union hat an den Urnen ohne Merkel noch weniger zu erwarten als mit ihr. Groß wäre der Blumentopf jedenfalls nicht, den die Christdemokraten mit ihrer neuen Parteichefin, Annegret Kramp-Karrenbauer, gewännen. Das ist in den sieben Monaten seit Beginn der Ära AKK ziemlich deutlich geworden.

Natürlich wird Merkel schwer zu ersetzen sein, vor allem in ihrer eigenen Partei. Doch unersetzlich ist auch sie nicht – und Aussitzen auf Dauer einfach keine Zukunftsoption für Deutschland.

E-Mails an:christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2019)

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