Im Zentrum Moskaus wollten Anhänger der demokratischen Kandidaten mit einem dezentralen „Spaziergang" für freie Wahlen demonstrieren. Hunderte wurden am Samstag festgenommen.
Die Sicherheitskräfte hatten nichts dem Zufall überlassen. Tretgitterreihen standen entlang der mehrspurigen Twerskaja-Straße, Mannschaftswägen parkten in den Seitengassen, behelmte Vertreter der Nationalgarde hielten strategisch Plätze besetzt. Betreibern von Cafés und Geschäften hatten die Behörden nahegelegt, ihre Lokale am Samstag nicht zu öffnen. Mehrere ließen die Rollbalken tatsächlich unten. Sowieso war an diesem Samstag nicht mit vielen Einkäufern zu rechnen. Die Polizei hatte die Gegend um den Boulevard-Ring (eine Straße samt Grüngürtel und üblicherweise beliebter Ort für Spaziergeher, Jogger und Parkbanksitzer), derart in Beschlag genommen, dass er einem Belagerungsring glich.
Oppositionsaktivisten hatten am Samstag auf dem Boulevard-Ring erneut zu einer Kundgebung für freie Wahlen aufgerufen. Hintergrund der Demonstration ist das Teilnahmeverbot für mehr als ein Dutzend unabhängiger Politiker an der Wahl zum Moskauer Stadtparlament im September. Seit drei Wochen kommt es regelmäßig zu genehmigten und nicht genehmigten Protesten. Da man sich im Vorfeld auf keinen Ort einigte, fand das Meeting aus Behördensicht unerlaubt statt.
Teil-Erfolge für beide Seiten
Die Kundgebung wurde von beiden Seiten als entscheidende Etappe gesehen. Für die Aktivisten war sie ein auch an sich selbst gerichtetes Zeichen, dass man trotz der behördlichen Repressionen der letzten Woche nicht so schnell aufgeben werde. Ziel der Polizei war die erklärte Verhinderung der als „Spaziergang“ angekündigten Veranstaltung.
Fazit: Beide Seiten konnten Teil-Erfolge feiern. Trotz umfangreicher Personenkontrollen und kurzfristiger Verhaftungen gelang es mehreren hundert „Spaziergängern“ auf dem Grünstreifen auf- und abzuflanieren. Dies geschah ruhig, in gelöster Atmosphäre und ohne Sprechchöre. Man warf einander verschwörerische Blicke zu. Mitunter wirkte die Kundgebung wie eine trotzige Geheimversammlung nach dem Motto „Gehen ist doch nicht verboten“. Eine einzelne Demonstrantin erklärte, sie sei trotz Kontrollen auf den Boulevard-Ring gelassen worden: „Ich sehe nicht aus wie eine Teilnehmerin.“
Dort, wo es zu größeren Menschenansammlungen kam, schritt die Polizei allerdings zügig ein. Beamte warfen sich auf einen Mann mit Russland-Fahne. Ein Radfahrer samt Fahrrad wurde festgenommen. Ziel war die Unterbrechung des Demonstrationsflusses, die Zerstreuung der Bürger in Seitenstraßen und die Auflösung: Mehr als 600 Menschen wurden bis zum frühen Nachmittag festgenommen. Das Internet funktionierte im Umkreis der Kundgebung nicht, was die Koordination für die versprengten Teilnehmer erschwerte.
Bei einer Demonstration vor einer Woche war es zu Massenverhaftungen von knapp 1400 Menschen gekommen. Hausdurchsuchungen und Ermittlungen dauern an. 88 Teilnehmer müssen mit Verfahren rechnen, gegen 332 wurden Strafen verhängt, wie ein Moskauer Gericht am Freitag erklärte. Mehreren unabhängigen Lokalpolitikern droht als mutmaßlichen Organisatoren des Protests ein Strafverfahren wegen Aufruf zu Massenunruhen. Ein Vorwurf, der mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden kann.
Sobol: „Habe keine Angst"
Die Behörden hatten stark auf die abschreckende Wirkung gesetzt. Wer auf die Demonstration ging, hatte mit einer Festnahme zu rechnen. Die Anhänger hatten einander zuvor in Sozialen Medien Mut zugesprochen. „Ich gehe hin“, war ein Spruch, den man oft lesen konnte.
Ljubow Sobol hatte ihren Anhängern auf Twitter ebenfalls versichert: „Noch einmal: Ich habe keine Angst und am 3. August um 14 Uhr gehe ich hin.“ Als mutmaßliche Organisatorin hatte ihr die Staatsanwaltschaft Moskau eine schriftliche Mahnung zukommen lassen. Die Demo sei eine „direkte Gesetzesverletzung“, hieß es.
Sobol ist in den letzten Tagen zum Gesicht der Proteste in Moskau geworden. Die 31-Jährige mit dem blonden Haar und der schwarzen Hornbrille ist eine der letzten Kandidaten, die noch in Freiheit ist. Sobol ist Juristin, arbeitet beim Antikorruptionsfonds von Alexej Nawalny und ist Mitglied von Nawalnys Partei Russland der Zukunft. Nawalny verbüßt derzeit eine 30-tägige Haftstrafe; er war – ebenso wie die verhinderten Kandidaten – noch vor der Kundgebung in der Vorwoche festgenommen worden.
Geldwäsche-Verfahren gegen Nawalny
Unterdessen hat die russische Justiz ein Ermittlungsverfahren wegen Geldwäsche gegen den Antikorruptionsfonds eingeleitet. Mitarbeiter hätten "eine große Geldsumme von Dritten bekommen", die "illegal" zustande gekommen sei, teilten Ermittler am Samstag mit. Es gehe um eine Summe in Höhe von knapp einer Milliarde Rubel (13,89 Millionen Euro).
In einem Interview mit der russischen Redaktion von BBC gab sich die mit einem Schlag berühmt gewordene Lokalpolitikerin Sobol am Vorabend der Demonstration noch kämpferisch: „Ich werde Sobjanins Rating mit in mein Grab ziehen.“ Gemeint ist damit Bürgermeister Sergej Sobjanin, der farblose Stadtmanager von Kremls Gnaden. Als Sobol am Samstag im Zentrum Moskaus aus dem Taxi stieg, wurde sie sofort festgenommen.