Kosten der Freiwilligkeit

Freiwilligenarbeit als erfreuliche Schattenwirtschaft

(c) Marin Goleminov, Presse
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Mehr als drei Millionen Österreicher arbeiten freiwillig. Würden sie für ihre Arbeit plötzlich Geld verlangen, müssten Staat und Non-Profit-Unternehmen tief in die Tasche greifen. Schätzungen gehen von neun Milliarden Euro aus, die diese Arbeit pro Jahr kosten würde. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Freiwilligenarbeit gehen aber über reines Geldsparen hinaus. (Von Manuel Mayr)

Die Wirtschaftskammer definiert das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, „die innerhalb eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft (...) hergestellt wurden“. Um den Wert der Wirtschaftsleistung Österreichs vollumfänglich messen zu können, müssten demnach alle Dienstleistungen bewertet werden – auch unbezahlte. Momentan finden sich jedoch nur bezahlte Waren und Dienstleistungen in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) der Statistik Austria wieder, in der das jährliche BIP errechnet wird. Damit fallen nicht nur Haushaltstätigkeiten wie Kochen, Altenpflege oder Kinderbetreuung hinaus, sondern auch freiwillig geleistete Tätigkeiten bei der Feuerwehr, in der Flüchtlingshilfe oder in Sportvereinen.

Knapp neun Milliarden Euro Wertschöpfung erzielt die Freiwilligenarbeit in Österreich pro Jahr. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie der Wiener Wirtschaftsuniversität (WU) im Jahr 2012. Das sind 2,8 Prozent des BIP von 2012. Die Rechnung war eine einfache: Die Forscherinnen Ruth Simsa und Doris Schober multiplizierten die Anzahl der Freiwilligenstunden mit einem Stundenlohn von 11,48 Euro. Seither wurde keine vergleichbare Berechnung mehr durchgeführt. Der heutige Wert könnte aber über neun Milliarden Euro liegen.

Ungenaue Zahlen

Denn die Anzahl der freiwillig geleisteten Stunden pro Woche ist seit 2012 angestiegen. Die WU-Forscherinnen rechneten mit 7,9 Millionen Stunden „formeller Freiwilligenarbeit“, also der Arbeit in Organisationen wie dem Roten Kreuz oder der katholischen Kirche. Dem Freiwilligenbericht des Sozialministeriums aus dem Jahr 2015 zufolge arbeiten die Freiwilligen in Organisationen bereits 11,5 Millionen Stunden pro Woche (siehe Grafik unten). Aktuellere Zahlen gibt es derzeit nicht. Dazu kommt die „informelle Freiwilligenarbeit“. Damit sind private Tätigkeiten außerhalb des eigenen Haushalts wie Nachbarschaftshilfe, Pflege von Angehörigen oder private Nachhilfe gemeint. Diese Tätigkeiten, die nicht im Rahmen von Organisationen geleistet werden, bezifferten Simsa und Schober mit knapp 6,8 Millionen Stunden pro Woche. Auch dazu gibt es keine aktuelleren Zahlen.

Die Zahlen zur Freiwilligenarbeit seien nur Schätzungen, betont Astrid Pennerstorfer. Die Sozioökonomin forscht an der WU zu gemeinnütziger Arbeit. Der Versuch, der Freiwilligenarbeit einen Geldwert zu geben, ist für sie eine „Übung der Wertschätzung“. Dennoch seien Forscher mit Schwierigkeiten bei der Erhebung konfrontiert. Bei der informellen Freiwilligenarbeit gebe es viele Graubereiche, etwa, ob eine Arbeit noch Hobby oder schon Freiwilligenarbeit ist. Dem Nachbarn bei der Gartenarbeit zu helfen, ist für manche Befragte Arbeit, für andere Hobby. Was die formelle Freiwilligenarbeit betrifft, hätten die Organisationen selbst keine genauen Zahlen, sagt Pennerstorfer.

18,3 Millionen Stunden pro Woche (11,5 Millionen formell und 6,8 Millionen informell) multipliziert mit dem Stundenlohn aus der WU-Studie, 11,48 Euro, ergeben auf ein Jahr hochgerechnet eine Wertschöpfung der Freiwilligenarbeit von 10,9 Milliarden Euro. Doch auch diese Rechnung ist zu simpel. Um ein genaueres Ergebnis zu bekommen, müsste für jeden Bereich, in dem Freiwilligenarbeit geleistet wird, ein eigener Lohn für die Berechnung herangezogen werden. Der Stunde eines freiwilligen Rettungssanitäters würde demnach der Lohn eines Sanitäters der Berufsrettung beigemessen. In Wien liegt dieser gemäß Kollektivvertrag des Roten Kreuzes bei mindestens 2383,09 Euro brutto im Monat.

Aber auch bei der Bestimmung der Lohnhöhe sieht Pennerstorfer Schwierigkeiten: „Man kann annehmen, dass man bei der Freiwilligenarbeit weniger effizient arbeiten will. Es soll ja auch Spaß machen.“ In diesem Fall wäre der Durchschnittslohn der jeweiligen Branche zu hoch angesetzt. Umgekehrt würden vielleicht höher Qualifizierte für Tätigkeiten eingesetzt, die normalerweise niedriger Qualifizierte machen würden. Der Durchschnittslohn wäre dann zu niedrig. „Man trifft sehr viele Annahmen“, begründet die Forscherin ihre Skepsis.

Wohlstandsmessung ohne unbezahlte Arbeit

„Auch das BIP beruht auf zahlreichen Schätzungen und Hilfsansätzen“, sagt Arbeiterkammer-Ökonom Matthias Schnetzer. Schnetzer beschäftigt sich mit der unbezahlten Haushaltsarbeit, die ebenso wie die Freiwilligenarbeit nicht im wichtigsten Wohlstandsindikator BIP vorkommt. „Es wäre vermessen zu sagen, das BIP sei eine Daumen-mal-Pi-Rechnung. Aber diese präzise Zahl – 385,71 Milliarden Euro im Jahr 2018 – kann den tatsächlichen Wohlstand einer Gesellschaft nicht zufriedenstellend abbilden.“

Ein Beispiel für Schätzungen seien Trinkgeldzahlungen oder schattenwirtschaftliche Aktivitäten – im Volksmund „Schwarzarbeit“ genannt. Davon gibt es Schnetzer zufolge keine „systematischen Aufzeichnungen“. Für die Ermittlung des BIP wird die Höhe der Zahlungen daher geschätzt. Aus diesem Grund wäre es auch möglich, die unbezahlte Haushaltsarbeit zu schätzen und in die Wohlstandsmessung miteinzubeziehen. 79,26 Milliarden Euro beträgt deren Wertschöpfung laut Berechnungen von Elisabeth Schappelwein. In ihrer Masterarbeit aus dem Jahr 2018 mit dem Titel „Der blinde Fleck unbezahlte Arbeit“ multiplizierte die Studentin den Durchschnittsstundenlohn einer Haushaltshilfe mit den jährlich im Haushalt unbezahlt gearbeiteten Stunden. Das Ergebnis entspricht rund 27 Prozent des BIP. Haushaltsarbeit wäre damit Österreichs größter Wirtschaftssektor (siehe Grafik unten).

Die von Schappelwein verwendeten Daten der Arbeitsstunden im Haushalt sind allerdings veraltet. Sie stammen aus der letzten Zeitverwendungserhebung der Statistik Austria von 2008/09. Daher fordert Schnetzer eine neue Zeitverwendungserhebung. In dieser Studie werden repräsentativ ausgewählte Haushalte gebeten, einen Tag lang genau aufzuschreiben, wie viel Zeit sie für welche Tätigkeiten aufwenden.

Die Erhebung vor zehn Jahren zeigte Unterschiede bei der Aufteilung der unbezahlten Arbeit nach Geschlechtern. Während Männer 37 Prozent ihrer wöchentlichen Arbeitszeit (63,5 Millionen Stunden) mit unbezahlter Arbeit verbringen, sind es bei den Frauen 63 Prozent (123 Millionen Stunden). Die Freiwilligenarbeit ist neben Haushalts- und Betreuungsarbeit aber nur ein kleiner Teil davon.

Freiwillig arbeiteten Frauen demnach 5,2 Millionen, Männer 5,5 Millionen Stunden pro Woche. Dem Freiwilligenbericht 2019 zufolge sind etwa Katastrophenhilfe und politische Arbeit klare Männerdomänen. Frauen arbeiten dafür häufiger in der Bildungsarbeit oder im sozialen Bereich. Von der europäischen Statistikbehörde Eurostat wird empfohlen, alle zehn Jahre eine Zeitverwendungserhebung durchzuführen. Die Statistik Austria kann allerdings nicht aus Eigeninitiative aktiv werden. Sie benötigt einen Auftrag einer öffentlichen Institution – etwa der Bundesregierung – sowie eine Finanzierung. Schnetzer zufolge fehlte bei der im Sommer 2019 abgesetzten ÖVP-FPÖ-Regierung der Wille dazu. Aus dem Bundeskanzleramt der seit Juni im Amt befindlichen Übergangsregierung heißt es dazu, das Familienministerium habe ein Angebot von der Statistik Austria eingeholt. Entscheiden sollte laut Ministerin Ines Stilling aber die kommende Regierung. Diese hat sich offenbar entschieden. Im Regierungsprogramm der im Jänner angelobten ÖVP-Grün-Regierung findet sich die Absichtserklärung, eine Zeitverwendungserhebung zu beauftragen.

Der übersehene Sektor

Demselben Regierungsprogramm zufolge soll sich eine Arbeitsgruppe damit befassen, ein Satellitenkonto einzurichten, „um auch die wirtschaftliche Bedeutung von gemeinnütziger, zivilgesellschaftlicher und freiwilliger Arbeit sichtbar zu machen“. Die Forderung von Franz Neunteufl hat offenbar Gehör gefunden. Neunteufl vertritt als Geschäftsführer der Interessenvertretung gemeinnütziger Organisationen (IGO) Vereine wie Licht für die Welt oder SOS Mitmensch. Er startete im Juni 2019 einen Aufruf für ein eigenes Satellitenkonto in der Volkwirtschaftlichen Gesamtrechnung, in dem die wirtschaftliche Bedeutung der gemeinnützigen Unternehmen abgebildet wird. Ein gemeinnütziges Unternehmen ist ein privates, nicht gewinnorientiertes (also Non-Profit-) Unternehmen. Der Sinn eines Satellitenkontos besteht darin, sich einen Teilaspekt der Gesamtwirtschaft genau anzusehen. In Österreich gibt es etwa ein Tourismus-Satellitenkonto. Neunteufl verspricht sich dadurch eine regelmäßige Veröffentlichung von Daten wie Anzahl der Non-Profit-Unternehmen, Anzahl der Beschäftigten im gemeinnützigen Sektor sowie Anzahl der Freiwilligen und deren geleisteter Stunden. „Momentan müssen das die Vereine selbst auflisten. Es gibt keine Vergleichbarkeit und keine Kontinuität“, begründete Neunteufl vor Bekanntwerden des Regierungsprogramms die Forderung.

Eine WU-Studie aus dem Jahr 2013, an der Astrid Pennerstorfer beteiligt war, kam zu dem Ergebnis, dass der gemeinnützige Sektor (Non-Profit-Sektor) eine Wertschöpfung von etwa sieben Milliarden Euro erzielt. Die Zahl entspricht 2,2 Prozent des österreichischen BIP von 2013. Darin enthalten ist allerdings nur bezahlte Arbeit in gemeinnützigen Organisationen und nicht Freiwilligenarbeit.

90 Prozent der 110.000 in Österreich tätigen Non-Profit-Organisationen arbeiten ausschließlich mit Freiwilligen, heißt es im Freiwilligenbericht 2015. Der Fundraising-Verband Austria geht in seiner Studie „Gemeinnützigkeit in Zahlen“ aus dem Jahr 2019 von einer Wertschöpfung des Non-Profit-Sektors inklusive Freiwilligenarbeit von 15 Milliarden Euro aus. Diese Zahl würde 3,9 Prozent des derzeitigen österreichischen BIP ausmachen. Neben 3,5 Millionen Freiwilligen arbeiten rund 250.000 bezahlte Beschäftigte im gemeinnützigen Sektor. Der hohe Freiwilligenanteil in dieser Branche bringt das Problem des Lohndumpings ins Spiel.

Dumping-Gefahr?

Das Problem Dumping kennt der erfahrene österreichische Zeitungsleser aus der Baubranche oder der Steuerpolitik. Etwa, wenn osteuropäische Baufirmen ihren Mitarbeitern auf österreichischen Baustellen nur den Mindestlohn aus dem Herkunftsland zahlen. Dann geraten heimische Baufirmen unter Kostendruck und drücken die Löhne, so weit es geht. In der Steuerpolitik wird Ländern wie Irland oder Ungarn vorgeworfen, dass sie mit ihren niedrigen Körperschaftsteuern andere Länder zwingen, aus Wettbewerbsgründen ebenfalls die Steuern zu senken. Nach dieser Logik müssten auch unbezahlte Kräfte im Non-Profit-Sektor den allgemeinen Lohn in diesen Bereichen drücken. Aber gibt es dafür Belege?

Auch WU-Ökonomin Pennerstorfer stellte sich diese Frage. In ihrer Dissertation aus dem Jahr 2008 zum Thema „Lohnhöhe und Lohnstreuung im Non-Profit-Sektor“ verglich sie gemeinnützige Organisationen, die mit Freiwilligen arbeiten, mit jenen ohne Freiwillige. Tatsächlich seien in den Organisationen ohne Freiwillige die Löhne höher als in jenen mit Freiwilligen. Dumping ist für Pennerstorfer aber nur eine Interpretation dieses Ergebnisses: So könnten in Non-Profit-Organisationen mit Freiwilligen etwa beliebtere Tätigkeiten auf der Tagesordnung stehen: „Die Ehrenamtlichen tun offensichtlich etwas, bei dem Leute auch gern mitarbeiten und deswegen geringere Löhne in Kauf nehmen.“

Freiwilligenarbeit als Motor für Wirtschaftswachstum

Es gebe aber zumindest Hinweise, dass Freiwilligenarbeit Angestellte verdrängt: „Organisationen, die unter wirtschaftlichem Druck stehen und Freiwillige haben, haben systematisch mehr Personalabgänge als Organisationen ohne Freiwillige. Wenn man die Organisationen fragt, sagen sie, Freiwillige und Arbeitskräfte ergänzten sich. Aber wenn Not am Mann ist, nimmt man vielleicht schon Freiwillige.“ Andererseits würden aber auch Freiwillige durch Angestellte ersetzt, wenn sich Organisationen professionalisieren. Freiwilligenarbeit hat laut Pennerstorfer dabei die Rolle, neue Wirtschaftszweige zu erschließen: „Über die Jahre hinweg zeigt der Non-Profit-Sektor relativ große Wachstumsraten. Ein Stück weit ist das so zu interpretieren, dass sich Dienstleistungsbereiche neu erfinden. Dass es neuen Bedarf in der Gesellschaft gibt.“ Den Bedarf decken zunächst Freiwillige, bis sich die Organisationen professionalisieren. Der Ersatz von Freiwilligen durch Angestellte ist also eine stetige Entwicklung. Aber was wäre, wenn Freiwillige plötzlich wegfallen würden?

Dem Freiwilligenbericht nach gaben nur 22 Prozent der befragten Organisationen an, Freiwillige bei deren Ausfall durch bezahlte Kräfte zu ersetzen. In der Katastrophenhilfe sagten 31 Prozent, sie würden Leute einstellen, in den Bereichen Kultur, Religion, Gemeinwesen oder Bildung waren es nur fünf bis acht Prozent. „Prinzipiell gibt es sicher Bereiche, in denen der Wohlfahrtsstaat seine Pflichten wahrnehmen würde. Der Rettungsdienst würde bezahlt mit öffentlichen Steuermitteln und halt dementsprechend mehr kosten. Die Versorgungslage würde ein Stück weit schlechter. Beim Flüchtlingswesen glaube ich auch, dass es grundlegende Dienste geben muss. Aber andere Dinge wie der Fußballverein für die Kinder würden dann nicht mehr angeboten“, prognostiziert Pennerstorfer.

Welche Wertschöpfung dieser Fußballverein für die Kinder erzielt, ist auf den Cent genau schwer zu berechnen – genauso wie der Deutschkurs für Flüchtlinge oder das Löschen eines Hausbrands. Der Trend, gesellschaftliche Aktivitäten in Zahlen zu gießen, macht aber auch vor der Freiwilligenarbeit nicht Halt.

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