Kommentar

Darf eine Weiße jetzt nicht mehr über Latinos schreiben?

Der Stein des Anstoßes: Ein Buch.
Der Stein des Anstoßes: Ein Buch.APA/AFP/LAURA BONILLA CAL
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Erst erntete der Migrations-Roman „American Dirt“ lauter Lob. Nun steht die Autorin unter Beschuss, weil sie nicht die richtige Hautfarbe hat.

Fünf Jahre lang hat Jeanine Cummins recherchiert, im Grenzland zwischen Mexiko und den USA. Sie arbeitete in Suppenküchen, besuchte Waisenhäuser, sprach mit Flüchtlingen, deren Anwälten und Menschenrechtsaktivisten. Heraus kam „American Dirt“, die herzzerreißende Geschichte einer Mexikanerin aus dem Mittelstand, deren Familie von einem Drogenkartell fast ausgerottet wird und die ihren Sohn, versteckt in einem Flüchtlings-Treck, in die USA in Sicherheit bringen will. Der Roman, vor zwei Wochen in einer Startauflage von einer halben Million erschienen und an der Spitze der Bestsellerlisten, versprach die literarische Sensation des Jahres zu werden (im April erscheint er auf Deutsch). Auch vier der wichtigsten mexikanischen Schriftstellerinnen priesen ihn als das lang erwartete Epos „über die beiden Amerikas“, als Buch, „das die Herzen und die Politik verwandeln wird“ – und vielleicht auch manchen Trump-Wähler. Alles gut also?

Nichts ist gut. Denn: Frau Cummins hat zwar eine Großmutter aus Puerto Rico, aber sie ist weiß. Weiß!

Also kann sie nicht wissen, wie sich Latinos fühlen, also hat sie deren Leid „ausgebeutet“. In einem Brief fordern fast 100 Autoren die TV-Ikone Oprah Winfrey auf, ihre Empfehlung für das Werk zu widerrufen. Buchhändlern wird mit Boykott, Protesten und Gewalt gedroht. Der Verlag sagt die Lesereise ab, er kann nicht mehr für die Sicherheit seiner Autorin garantieren. Viele, die das Buch gepriesen haben, ziehen ihr Lob ängstlich zurück. Die Idee dahinter: „Kulturelle Aneignung“ ist böse, jedenfalls wenn jemand aus einer dominanten Gruppe sich der Kultur, der Themen und Sorgen von Diskriminierten annimmt.

Als etwa die weiße Malerin Dana Schutz ein Opfer der Rassenkonflikte darstellte, forderten schwarze Kollegen, das Bild zu vernichten. Zu Ende gedacht: Shakespeare hätte nie den Othello oder den Kaufmann von Venedig dichten dürfen, denn er war weder Schwarzer noch Jude. Es ist ein Skandal, den „Talisman“ aufzuführen, denn Nestroy war nicht rothaarig. Und was zum Teufel bildeten sich Fontane und Tolstoi ein, als sie über die Nöte von Frauen im Korsett unglücklicher Ehen schrieben? Sicher hatten früher Unterdrückte gar keine Chance, sich selbst Gehör zu verschaffen. Dieser Missstand bestehe bis heute, behaupten die Aktivisten: Die von Weißen dominierten Verlage ließen Latino-Autoren nicht ran. Doch das ist hier hoch unplausibel: Gerade die Klientel einer solchen Geschichte hätte sie noch lieber von einer authentischen Latina gelesen. Hat es keine versucht, keine so hinbekommen wie Cummins? Hinter der moralisch verbrämten Kritik scheint auch blanker Neid zu stecken.

Es ist das Wunderbare am Lesen von Romanen, dass wir uns dabei mit fremden Charakteren in fremden Milieus identifizieren – und so entdecken, was alle Menschen verbindet. Noch wunderbarer ist, dass Flaubert mit Fug und Recht sagen konnte: „Ich bin Madame Bovary.“ Und diese Wunder wollen wir uns nehmen lassen? Wenn sich die „Progressiven“ in Amerika an solch absurden Fronten zerfleischen, darf Trump triumphieren.

karl.gaulhofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2020)

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