In Thüringen wird zum ersten Mal ein Ministerpräsident auch mit den Stimmen der AfD gewählt. Der „Dammbruch“ erschüttert das politische Berlin. Es gibt Drohungen und Beschimpfungen.
Berlin. Thomas Kemmerich steht im Plenarsaal des Landtags im ostdeutschen Thüringen. Die Landeschefin der Linkspartei wirft ihm den Blumenstrauß vor die Füße. Ein Eklat. Andere gratulieren freundlich. Man fragt sich, was Kemmerich durch den Kopf geht. Noch ein paar Minuten zuvor war er Fraktionschef einer Fünf-Personen-Truppe, der winzigen FDP-Fraktion in Thüringen. Die Liberalen hatten den Wiedereinzug in den Landtag nur hauchdünn geschafft. 73 Stimmen weniger, und sie wären draußen geblieben. Und jetzt ist Kemmerich, 54 Jahre alt und politischer No Name, plötzlich Ministerpräsident des Freistaats Thüringen.
Seine Wahl ist eine Sensation und ein Tabubruch, weil Kemmerich nicht nur von FDP und CDU, sondern auch mit den Stimmen der AfD ins Amt gehievt wurde. Das gab es noch nie in Deutschland. Kemmerich ist also auch Ministerpräsident von Gnaden des AfD-Landeschefs Björn Höcke, der auch innerhalb der eigenen Partei rechts außen steht und laut Gerichtsurteil straffrei „Faschist“ genannt werden darf. In Berlin und München braute sich deshalb ein Sturm der Entrüstung zusammen, wie man ihn ganz selten erlebt. Nicht nur die Parteien links der Mitte geißelten die Wahl des FDP-Manns mit Hilfe der CDU und AfD als – Wort der Stunde – „Dammbruch“.
„Gegen den Willen“ der Bundes-CDU
Auch die CDU ging auf die eigenen Parteifreunde in Thüringen los. Thüringer CDU-Abgeordnete hätten billigend in Kauf genommen, dass ein Ministerpräsident „auch mit Stimmen von Nazis wie Herrn Höcke“ gewählt werden konnte, klagte CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak. Die Wahl sei „gegen den Willen“ der Bundespartei erfolgt, betonte CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer. Das CDU-Präsidium forderte eilig Neuwahlen in Thüringen – so wie zuvor schon CSU-Chef Markus Söder. Und selbst FDP-Chef Christian Lindner hielt Neuwahlen für die beste Lösung, falls sich SPD und Grüne einer angebotenen Zusammenarbeit mit FDP-Mann Kemmerich verweigern. Und das werden sie.