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Hinter den Kulissen der Dreyfus-Affäre

Der Aufdecker und der Sündenbock: Georges Picquart (Jean Dujardin), Alfred Dreyfus (Louis Garrel).
Der Aufdecker und der Sündenbock: Georges Picquart (Jean Dujardin), Alfred Dreyfus (Louis Garrel). Guy Ferrandis
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In seinem Historiendrama „J'accuse“ rollt Roman Polanski die Dreyfus-Affäre neu auf und erzählt von Justizwillkür, Empörungskultur und Verleumdung. Ein Selbstverteidigungsversuch angesichts der Vorwürfe gegen den Regisseur?

Da erhob Dreyfus die rechte Hand und rief: ,Ich schwöre und erkläre, dass Sie einen Unschuldigen degradieren. Es lebe Frankreich!‘ In demselben Augenblick wurden die Trommeln gerührt. Der militärische Gerichtsvollzieher begann, dem Verurteilten die Knöpfe und Schnüre, die schon vorher gelockert waren, von der Uniform herabzureißen. Dreyfus bewahrte eine ruhige Haltung. Nach wenigen Minuten war die Prozedur vollzogen.“

So berichtete Theodor Herzl in der „Neuen Freien Presse“ von der Zeremonie, die den Status des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus als Sündenbock für eine Spionageaffäre öffentlich zementieren sollte. Das Spektakel machte Eindruck auf den Wiener Journalisten: Er witterte den Anflug antisemitischer Großwetterlagen. Und war nicht der Einzige, der die Ereignisse mit Besorgnis beäugte. Der Fall Dreyfus spaltete ganz Frankreich. Er gilt heute als historisches Paradebeispiel für Machtmissbrauch, Faktenverdrehung und Justizwillkür. Mit „J'accuse“ startet am Freitag ein Film in den Kinos, der die Hintergründe des Dreyfus-Komplexes möglichst detailgetreu aufdröseln will, um Mechanismen der Verleumdung und Fehlverurteilung freizulegen. Ein löbliches Unterfangen. Es gibt nur einen kleinen Haken: Regie führte Roman Polanski.

Ein renommierter Filmemacher mit jüdischen Wurzeln, der bekanntlich selbst Teil einer anhaltenden Kontroverse ist, seit er 1977 in den USA wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen angeklagt wurde – und sich der Urteilsverkündung entzog. Erst im November letzten Jahres wurden neue Vorwürfe gegen ihn laut. In Paris begleiteten Proteste die Veröffentlichung seines jüngsten Films – und sind kürzlich wieder aufgebrandet, als er für zwölf französische Filmpreise nominiert wurde. In den USA und in Großbritannien stößt „J'accuse“ indes auf Verleihschwierigkeiten.

Ist hier niemand für Aufklärung?

Unter diesen Vorzeichen fällt es schwer, den Film völlig von seinem Urheber getrennt zu betrachten, der seit Längerem in demonstrativer Defensivhaltung verharrt: Schließlich handelt der Film ausdrücklich von nachträglicher Exkulpierung und den Gefahren vorschneller Meinungsbildung. Ihn als verkappte Selbstverteidigung abzutun, würde dennoch zu kurz greifen.

„J'accuse“ beginnt mit der von Herzl beschriebenen Degradierungsszene. Da ist der junge Leutnant Georges Picquart (ungewohnt und überzeugend stoisch: Jean Dujardin) noch gleichmütiger Zeuge. Juden ist er nicht sehr zugeneigt. Aber redlich und integer bis ins Mark. Umso mehr frappiert es ihn, als er nach seiner Beförderung zum Militärgeheimdienstchef auf Ungereimtheiten im Fall Dreyfus stößt. Mit wachsendem Befremden stellt er fest, dass außer ihm niemand an Aufklärung interessiert scheint.

Auf Basis eines Tatsachenromans von Robert Harris protokolliert „J'accuse“ den Lauf der Dinge aus Picquarts Perspektive. Diese erweitert sich stetig über Erinnerungsrückblenden. Den französischen Staatsapparat skizziert der Film als Hort verkrusteter Verkommenheit. Mit trocken-sardonischem Galgenhumor wendet er dabei antisemitische Stereotype gegen ihre Verfechter: Während die Machthaber von jüdischen Weltverschwörungen schwafeln, sind sie es selbst, die eine „Intrige“ (so der deutsche Zusatztitel) gegen Unschuldige verantworten, Beweise fälschen, Geld horten, heimlichen Lastern frönen.

Der geifernde, empörte Mob

Die auf historisch verbürgten Details fußende, graubraun gefärbte Inszenierung ist zackig und verknappt wie ein „Habt Acht!“. Doch nüchtern kann man sie nicht nennen. Zu stark ist Polanskis Hang zur Karikatur, zur pointierten ästhetischen Geste. Als Picquart per Strafversetzung ruhiggestellt werden soll, zoomt die Kamera auf eine ausgedrückte Zigarette. Schöner ein Moment, in dem Picquarts Standhaftigkeit die Mundwinkel seiner verbissenen Vernehmer zum Zucken bringt: Winzige Risse im Systembeton.

Doch bei aller verständlichen Eindeutigkeit in der moralischen Stellungnahme bleiben Restambivalenzen. Dass der Film das französische Volk fast nur als geifernden Mob porträtiert, könnte man als Seitenhieb gegen die Empörungskultur der Gegenwart lesen. Zugleich ähnelt das titelgebende „J'accuse“ Émile Zolas, der hier als edle Gewissensinstanz auftritt, zeitgenössischen Twitter-Anklagen.

Am Ende zeugt „J'accuse“ (wie viele Polanski-Filme) von einer tiefen Skepsis gegenüber der Möglichkeit weltlicher Gerechtigkeit. Alfred Dreyfus (Louis Garrel), im Film nur eine Randfigur, entsteigt seiner Teufelsinsel-Kerkerhaft als gezeichneter Mann, seine späte Rehabilitierung wirkt wie eine müde Fußnote. Auch seine Fürsprecher tragen Blessuren davon – und keinerlei Gewissheiten, ob sich ihre Gesellschaft zum Besseren gewendet hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2020)

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