Srebrenica: „Die Welt beginnt, uns zu vergessen“

Srebrenica bdquoDie Welt beginnt
Srebrenica bdquoDie Welt beginnt(c) AP Amel Emric
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15 Jahre nach dem Massenmord an über 8000 Muslimen überschatten dessen Folgen noch immer den Alltag in der nordostbosnischen Stadt. Noch immer harren Tausende auf die Bestattung ihrer Angehörigen.

Frische Erdhügel durchbrechen die langen Reihen der schlanken Grabstelen. Friedhofsmitarbeiter in grünen Latzhosen schaufeln in der Mittagshitze in der Gedenkstätte von Potočari das Erdreich aus Grabesgruben.

Mehr als 770 Opfer des Massakers von Srebrenica werden am Sonntag endlich ihre letzte Ruhe finden. Doch auch 15 Jahre nach dem Massenmord ist der Krieg für die Angehörigen der Opfer nicht vorbei: Noch immer harren Tausende auf die Bestattung ihrer Männer, Söhne, Väter und Brüder.

Von ihrem kleinen Laden gegenüber dem Friedhof lässt Nadja Hazanonić traurig ihren Blick über das Gräberfeld schweifen. Am 12. Juli 1995 habe sie ihren Vater vor der Halle der angrenzenden Batteriefabrik das letzte Mal lebend gesehen, erzählt die Blumenverkäuferin mit tonloser Stimme. Nur dem Bruder sei damals nach einer 43-tägigen Odyssee die Flucht durch die Wälder geglückt. Von dem Skelett ihres Vaters seien erst 30 Prozent gefunden worden, erklärt die 42-Jährige, warum sie mit dessen Beerdigung noch warte. Sie hoffe, ihren Vater einmal auf dem gegenüberliegenden Hügel begraben lassen zu können, sagt die Frau. „Dann könnte ich sein Grab immer während meiner Arbeit sehen – und würde endlich wissen, wo mein Vater ist.“

Massenflucht in den Tod

Die Namen der vor 15 Jahren in Massenexekutionen hingerichteten Männer und Jugendlichen sind auf dem Gedenkfriedhof in hellgraue Granitplatten gemeißelt.

Zwei Jahre lang haben damals bosnische-serbische Truppen Srebrenica belagert. Als die Belagerer unter Führung von General Ratko Mladić am 11. Juli 1995 schließlich in die Muslimenklave einmarschierten, flüchteten sich 25.000 Menschen auf das Gelände der niederländischen UN-Einheit Dutchbat in Potočari.

Den erhofften Schutz vermochten die überforderten Blauhelme ihnen nicht zu geben. Nur Frauen und Kinder durften die Enklave in Buskonvois verlassen. Auf ihre Männer, Väter und Söhne, die nicht durch die Wälder vor den Eroberern flüchten konnten, harrte der Tod. „8372 kamen nicht an“, erinnert die Gedenkplakette auf dem Friedhof an Europas größten Massenmord seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Modrig-süßer Geruch lastet schwer über der Grabesstätte. Mit kleinen Schaufeln legen Archäologen in Plastikhandschuhen vorsichtig Knochen, Schädel und Kleiderreste frei. Zwar sind die Überreste von rund 6500 Opfern mithilfe von DNA-Proben mittlerweile identifiziert und 3749 der Toten bestattet. Aber noch immer wird in den Wäldern von Srebrenica nach Vermissten gesucht. Die Opfer der Exekutionen haben deren Henker zunächst in eilig ausgehobene Massengräber geworfen. Das Friedensabkommen von Dayton, das im Dezember 1995 das Ende des Bosnien-Kriegs besiegelte, sollte in den Wäldern um Srebrenica jedoch neue, hektische Grabungsarbeiten auslösen.

Um den Genozid zu vertuschen, wurden die Toten mit schwerem Gerät aus ihren Gräbern gehievt – und in neuen, kleineren Gruben verscharrt. Bei der eiligen Umbettung zerfielen viele der halb verwesten Leichen. Oft wurden ihre Gliedmaßen auf verschiedene „Sekundärgräber“ verteilt: Deren Zuordnung macht die Rekonstruktion der Skelette zu einem mühsamen Puzzle.

Zwölf Tage sei er damals durch die Wälder geirrt, bevor er das sichere Tuzla erreichte, erzählt Nesib, 32-jähriger Portier des Srebrenica-Dokumentationszentrums: „Ich hatte Glück. Aber es gibt hier keine muslimische Familie, die nicht Angehörige verloren hat.“ Die Konfrontation mit dem Massenmord mache ihm nicht zu schaffen, so Nesib: „Das ist mein täglich Brot – und ich bin froh, dass ich einen Job habe.“

Schwierige Aussöhnung

Routiniert spult Senad Subašić im Rathaus von Srebrenica die Zahlen des Niedergangs seiner Geburtsstadt ab. Vor dem Krieg habe die Zahl der Einwohner des Kreises 37.000 betragen, nun seien offiziell knapp 10.000 registriert, so der stellvertretende Bürgermeister, tatsächlich wohne nur die Hälfte von ihnen ständig hier.

Trotz des Leerstands macht Subašić „erhebliche Fortschritte“ bei der „schwierigen Aussöhnung“ aus. Als er 1998 aus dem deutschen Exil nach Srebrenica heimgekehrt sei, hätten nur noch fünf muslimische Bosniaken in der Stadt gewohnt. Haben Muslime vor dem Krieg drei Viertel der Einwohner gestellt, machen sie dank der Rückkehrer mittlerweile wieder fast die Hälfte der Bevölkerung aus: „Die Leute sitzen nicht mehr nur in getrennten Kneipen, sondern es gibt auch gemischte Cafés.“ Zu seinen serbischen Kollegen im Rathaus habe er ein „exzellentes Verhältnis“, versichert der Bürgervater.

Die wichtigste Voraussetzung für eine Normalisierung des Zusammenlebens sei jedoch die wirtschaftliche Entwicklung: „Die Leute verstehen sich, wenn es ums Geschäft, Aufträge oder Jobs geht. Wenn sie keine Jobs haben, den ganzen Tag in den Cafés oder Wettbüros rumhängen, suchen sie schnell einen Sündenbock.“

Gleichmütig observiert die Souvenirverkäuferin den Parkplatz vor der Gedenkstätte. Die Krise bekomme auch sie zu spüren, sie habe viel weniger Kunden als noch vor einem Jahr, berichtet die Frau mit dem Kopftuch. Den Angehörigen im Ausland fehle das Geld für die Heimfahrten, und die Zahl der ausländischen Besucher gehe zurück: „Das Interesse an dem, was hier geschehen ist, ist am Schwinden.“

Von rückgängigen Gästezahlen spricht auch der Kellner in der „Pansion Miserlije“: „Die Welt beginnt, Srebrenica zu vergessen – und die Hilfsorganisationen sind längst weitergezogen.“

AUF EINEN BLICK

Das Massaker von Srebrenica.
Am 11. Juli 1995 marschierten bosnisch-serbische Truppen unter General Ratko Mladić in die Muslimenklave Srebrenica ein. Dort töteten sie mehr als 8300 Männer des Ortes und verscharrten sie in Massengräbern. Bis heute wurden erst 3749 Opfer bestattet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2010)

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