Roman

„Jägerin und Sammlerin“: Flucht vor der Mutter

Ein seltsames Cover, aber: Lana Lux verhandelt große Themen.
Ein seltsames Cover, aber: Lana Lux verhandelt große Themen. (c) Aufbau Verlag
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Mutter-Tochter-Konflikte sind keine Erfindung der Neuzeit. Allerdings sind sie heute offensichtlicher und werden häufiger thematisiert – wie in Lana Lux’ Roman „Jägerin und Sammlerin“.

Wie oft ist in Familien zu beobachten, dass vornehmlich Mütter, die ihre Lebensziele oder Träume nicht erreicht haben, versuchen, vor allem ihre Töchter mit allen Mitteln in jegliche Richtung voranzutreiben – bei vielen mag diese Übung gelingen, bei anderen mag sie gelingen, aber zugleich drastische Folgen nach sich ziehen.
Wie ist das mit der Familie, die ein Kind mit Wurzeln und Flügeln ausstatten soll; eine Heimat, einen sicheren Hafen und zugleich jeglichen Platz zur Entfaltung? Eltern sollen Stärke beweisen, Grenzen aufzeigen, viel Liebe geben. Aber sie sollen nicht konkrete Wege vorgeben, vermeintliche Freiräume und Freiheiten nicht schon vorher begrenzen, um eine freie Entfaltung zu verhindern. Noch schwieriger wird es, wenn die Eltern aus einem anderen Land stammen und in der neuen Heimat nie ankommen, wie sie zuvor in der alten verwurzelt waren, während die im neuen Land geborenen Kinder nur diese eine, ihre Heimat kennen und das Migrationserlebnis nicht nachvollziehen können. Diese Kinder müssen oft eine Last mittragen, deren Ursprung sie gar nicht kennen.

Ähnliche Erfahrungen macht die Protagonistin Alisa in Lana Lux’ Roman „Jägerin und Sammlerin“, der in der Ukraine und Deutschland spielt: Als Kind war sie ihrer aus der Ukraine stammenden, wunderschönen, stets auf ihr Äußeres achtenden Mutter zu dick, zu behäbig, zu „deutsch“. Der Vater, der für diese kleine Familie seine Ehefrau verlassen hat, kommt nie wirklich an in Deutschland, wandelt sich in Kürze vom starken patriarchalen Geschäftsmann in einen den ganzen Tag im Trainingsanzug in der Wohnung herumsitzenden Exilanten, der sich weder bemüht, Deutsch zu lernen, noch in der neuen Heimat Fuß zu fassen. Also bleibt es allein die Aufgabe der Mutter, sich und die Familie durchzubringen. Keine gute Ausgangsposition für ein kleines Mädchen wie Alisa, das die problematische Situation in der elterlichen Wohnung, verschlimmert um die negative Migrationserfahrung und das Gefühl von Heimatlosigkeit seitens des Vaters, gänzlich mitbekommt und obendrauf ständig die Mutter „enttäuscht“.

Als Alisa im Teenageralter frühzeitig auszieht – der Vater ist längst wieder zurück in die Ukraine gegangen –, teilt sie sich mit einem anderen Mädchen ukrainischer Eltern die Wohnung – und gewinnt eine ganz neue, ganz aufregende Freundin: Mia. Mia bekommt sofort einen riesengroßen Platz in Alisas Leben zugewiesen und erweist sich physisch als sehr stark präsent: Sie sagt Alisa, wann sie zu essen hat und wie viel – und wann sie die Unmengen an ungesunden Lebensmitteln wieder loswerden muss, und zwar durch Erbrechen. Mia ist die „Koseform“ für Bulimia nervosa, auf Deutsch: Essbrechsucht. Diese neue Freundin gibt Alisa erstmals Halt in ihrem Leben, sie fordert nur das ein, was Alisa ihr auch geben kann – und so hat Alisa endlich das Gefühl, anderen und auch sich selbst zu gefallen, sobald sie ihre Stärke beweisen kann, indem sie entweder tagelang nichts isst oder das in kürzester Zeit in sich Hineingestopfte wieder erbricht.

Alisas Mutter bekommt nichts von all dem mit, ist sie doch immerzu nur mit sich und ihren Problemen beschäftigt: Sie will jemand sein im Leben, vorankommen, sie will jemanden um sich haben. Aber sie hadert mit dem Deutschtum, diesem so anderen Lebensstil, dafür ist sie einfach zu sehr Ukrainerin. Alisa weiß, sie braucht Hilfe, aber von ihrer Mutter ist keine zu erwarten. Im Gegenteil: Sie ist es, die ihrer Mutter ständig die starke Schulter bieten, ihr als Stütze dienen, sie bestärken muss – zurück kommt sehr wenig, meist gar nichts. Da läuft doch etwas falsch, denkt man als Leser – genauso wie bei Alisas Essverhalten.

Alisa hat nie die Geschichte ihrer Mutter erfahren, wie deren Leben aussah, bevor sie nach Deutschland kam. Da ist so viel Unausgesprochenes zwischen ihnen, das anzusprechen vielleicht ihre Situation und ihren Umgang miteinander verbessern würde. Aber nie bietet sich dafür eine reelle Möglichkeit. So gelingt es Alisa letztlich, sich der autoritären Mutter nur durch Kontaktabbruch zu entziehen, was die Mutter wiederum völlig falsch deutet. Immerzu schwirrt das Wort „Undankbarkeit“ durch den Raum, sobald es um Entscheidungen der Tochter geht.

Eine schwierige Ausgangssituation, eine komplizierte Familiengeschichte – und was bleibt Alisa? Migrationserfahrung, enttäuschte Erwartungen, unerfüllte Träume, Flucht in die Bulimie: Lana Lux verhandelt große Themen. Die Lektüre ist stimmig, die Geschichte und deren Entwicklung sind nachvollziehbar.


Lana Lux: „Jägerin und Sammlerin“, Aufbau Verlag, 304 Seiten, 20,60 Euro

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