Russland versinkt im dichten Rauch

Russland versinkt dichten Rauch
Russland versinkt dichten Rauch(c) EPA (SERGEI CHIRIKOV)
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Seit einem Monat wüten die Feuersbrünste in Zentralrussland. Der Kreml scheint machtlos. Trotz der 180.000 Feuerwehrleute, Soldaten und freiwilligen Helfer verbessert sich die Lage nicht.

Dichte Rauchschwaden auf Augenhöhe. Ein bedrohlich dunkler Himmel, an dem sich die Sonne nicht einmal erahnen lässt. Hitze und Brandgeruch erfüllen Moskaus menschenleere Straßen. Die Bewohner haben sich hinter Fenstern und Türen verbarrikadiert. An den Fenstern hängen feuchte Laken gegen Brandgeruch und giftige Gase. Russlands Hauptstadt gleicht einem Ort nach dem Super-GAU. Auch die Vögel haben sie verlassen. Spatzen, Tauben und Raben stürzten in Vororten benommen vom Himmel. Sechs Menschen starben bei einer Karambolage. Die Lenker beider Unfallautos hatten im dichten Smog der Innenstadt das jeweils andere Fahrzeug nicht gesehen.

Seit einem Monat wüten die Feuersbrünste in Zentralrussland. Mehr als 50 Menschen sind den Flammen zum Opfer gefallen. Tausende von Häusern wurden vernichtet, an die 4000 Menschen sind obdachlos. Winde aus dem Süden und Südosten treiben Rauchschwaden und Giftwolken unaufhörlich in die Hauptstadt.

Auch der Kreml, das sonst omnipotente Machtzentrum Russlands, ist im Smog verschwunden. Nur ein Kundiger erkennt noch die Umrisse. Er steht noch, doch viel ist aus dem Kreml zu der verheerendsten ökologischen Katastrophe, die Russland im vergangenen Jahrzehnt heimgesucht hat, nicht zu vernehmen.

Führerlos zwischen den Brandherden. Manchmal hat es den Anschein, als wanke das Land betäubt und führerlos zwischen den Brandherden hin und her. Beunruhigende Nachrichten, die als Kontrolldefizit der politischen Führung gedeutet werden könnten, werden bewusst zurückgehalten. Die offiziellen Angaben zur Schadstoffbelastung übersteigen die Normen zwar um ein Vielfaches. Die Kohlenmonoxidemission liegt 6,5-mal über dem zulässigen Wert. Doch kaum ein Moskauer traut den staatlichen Daten. Er verlässt sich stattdessen auf seine Nase, das Herz und den angegriffenen Rachen. Die lassen sich nicht täuschen. Seit mehr als einem Monat ächzt Russland unter der Hitzeglocke, die schlaflose Nächte so qualvoll wie den Tag macht.

Nach offiziellen Berichten rückt der ärztliche Notdienst in Moskau nun „etwas häufiger“ aus. Um 15 Prozent sollen Notrufe zugenommen haben. Trifft die Zahl zu, so wäre es wie in jedem Jahr, wenn der Sommer mal etwas wärmer ist. Nicht wie gewöhnlich, aber auch nicht ungewöhnlich. Dieses Bild wollen die Machthaber partout erhalten. Denn sie fürchten, aus dem Feuer könnte ein politischer Flächenbrand entstehen.

Todesfälle haben sich verdreifacht. Daher sind offiziell auch keine klaren Angaben zur Todesrate während der Ausnahmesituation zu erhalten. Die Leichenhallen wurden angewiesen, keine Auskünfte zu erteilen. Bestatter räumen jedoch ein, dass sie rund um die Uhr im Einsatz seien. Inoffiziell sollen sich die Todesfälle mindestens verdreifacht haben. Die Beerdigungsinstitute sind dem Andrang nicht gewachsen.

Um den Eindruck der Normalität zu wahren, verfügten die Moskauer Stadtbehörden bisher kein Fahrverbot. Und erst jetzt forderte die Stadtverwaltung Industriebetriebe auf, schadstoffhaltige Produktionen einzustellen. Dabei handelt es sich aber nur um eine Empfehlung, keine Anordnung. Zum ersten Mal legten sie den Bewohnern nahe, geschlossene Räumlichkeiten am Wochenende möglichst nicht zu verlassen. Jahrmärkte, Rummelplätze und Museen machten bis auf Weiteres zu. Auch die Ausflugsdampfer auf der Moskwa gingen vor Anker.

Nützliche Überlebenstipps. Moskaus leitender Amtsarzt, Gennadi Onischtschenko, hat Hausfrauen bereits ein paar nützliche „Überlebenstipps“ gegeben: die Fußböden häufiger nass zu wischen, viel Wasser ohne Kohlensäure zu trinken, mehrmals am Tag kalt zu duschen, Masken aufzusetzen und Anstrengungen zu vermeiden. Atemmasken sind in den Apotheken jedoch vergriffen, auch Ventilatoren und Klimaanlagen sind nicht mehr zu haben. Wer jetzt bestellt, wird voraussichtlich im November die Lieferung erhalten.

Trotz der 180.000 Feuerwehrleute, Soldaten und freiwilligen Helfer verbessert sich die Lage nicht. Das Zivilschutzministerium kündigte an, am Wochenende den Löschbetrieb auch nachts fortzusetzen. Bisher hatte es in der Nacht die Brandherde nur überwacht. Aufgebrachte Bürger fragen sich, warum das erst jetzt geschieht, und erinnern an das russische Sprichwort: „Bevor der Donner nicht grollt, wird der Pope sich nicht bekreuzigen.“

Unterdessen eilt Premier Wladimir Putin von Brandherd zu Brandherd und verspricht großzügig Hilfen für die Opfer. Damit diese die Entschädigungen auch rechtzeitig bekommen, greift er auf eine ungewöhnliche Methode zurück: „Die größten Baustellen werden per Videokameras überwacht, mit Direktübertragung zu mir ins Büro und nach Hause.“

Putin kann seinen Beamten nicht trauen, die Korruption hat das System zersetzt. Das ist denn auch der wahre Grund der Katastrophe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2010)

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