Europäischer Rat

Erdoğan bleibt erneut ungeschoren

Angela Merkel grüßt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán (im Hintergrund: Sloweniens Regierungschef Janez Janša und Bundeskanzler Kurz).
Angela Merkel grüßt Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán (im Hintergrund: Sloweniens Regierungschef Janez Janša und Bundeskanzler Kurz).REUTERS
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Die 27 Staats- und Regierungschefs verzichten auf Härte gegenüber dem Regime in Ankara und hoffen, die zahlreichen Konflikte auf diplomatische Weise lösen zu können.

Brüssel. Einen halben Tag und eine halbe Nacht lang rangen die 27 Spitzen der EU-Mitgliedstaaten bei ihrem Ratstreffen darum, eine gemeinsame Linie gegenüber der Türkei zu finden. Herausgekommen ist eine Erklärung, in der das Wort „Sanktionen“ nicht vorkommt. Dafür wird Ankara für seine „konstruktiven Bemühungen zur Beendigung der illegalen Aktivitäten gegenüber Griechenland und Zypern“ gelobt.

Als Belohnung für die Fortsetzung dieser Bemühungen versprechen die 27 der Türkei, „eine positive politische EU-Türkei-Agenda auf den Weg zu bringen, bei der besonderes Augenmerk auf der Modernisierung der Zollunion und auf Handelserleichterungen, auf Kontakten zwischen den Menschen, auf Dialogen auf hoher Ebene und auf einer fortgesetzten Zusammenarbeit bei Migrationsfragen liegt.“ Sollte die Türkei weiterhin völkerrechtswidrig in griechischen und zyprischen Hoheitsgewässern nach Öl und Gas bohren oder diese Grenzen missachten, werde die EU „alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente und Optionen nutzen, um ihre Interessen und die Interessen ihrer Mitgliedstaaten zu verteidigen“.

Wieso gab Zyperns Präsident, Nikos Anastasiadis, für diesen weichen Kompromiss sein Veto auf, um die EU-Sanktionen gegen 40 Mitglieder des belarussischen Staatsapparates zu ermöglichen? Diese Frage stellten sich nicht nur in Brüssel am Freitag viele Beobachter. Am plausibelsten scheint es, dass Anastasiadis seine Isolation im Kreis der 27 erkannte und einsah, dass zumindest zum jetzigen Zeitpunkt niemand Appetit auf eine Verschärfung des Konflikts mit dem türkischen Regime hat.

Merkel setzt sich erneut durch

Zypern dürfte darauf vertrauen, dass die anderen 26 nationalen Regierungen nun willens sind, bei erneuten türkischen Provokationen die Sanktionsmaschine gegen die Türkei wieder anzuwerfen. Den rechtlichen Rahmen dafür hat die EU bereits. Am 27. Februar wurden zwei Türken wegen ihrer Beteiligung an den Bohrungen mit Reise- und Vermögenssperren belegt.

Zudem soll eine Konferenz zur Schlichtung der zahlreichen territorialen Streitfragen im östlichen Mittelmeer beitragen. Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, soll sich um ihre raschestmögliche Organisation bemühen.

Ein Ohrenzeuge der Debatte der 27 Chefs in der Nacht auf Freitag berichtete der „Presse“, dass es Angela Merkels Überzeugungskünsten geschuldet ist, dass Anastasiadis sich doch beugte und sein Veto aufgab. Tenor von Merkels Vortrag, der „beeindruckend“ gewesen sei: Ihr seid nun in einer Familie, ihr seid nun nicht mehr allein mit euren Probleme gegenüber der Türkei.

„Wir wollen alles dafür tun, dass wir eine positive türkische Agenda finden“, betonte Merkel bei ihrer Pressekonferenz am Freitag nach Ende des Gipfeltreffens. Ungeachtet aller Spannungen (man denke an die türkische Kriegstreiberei in Syrien und Libyen sowie nun auch im armenisch-aserischen Krieg um Berg-Karabach) müsse man sich „in einzelnen Sachpunkten zusammenraufen“.

Von der „Presse“ auf die Aussage Erdoğans vom Donnerstag angesprochen, wonach die EU „ein einflussloses, oberflächliches Gebilde ohne Weitblick“ sei, antwortete Merkel gelassen: „Ich gehören nicht zu den Menschen, die jedes Wort auf die Goldwaage legen.“

Sondergipfel zu China-Politik

Die 27 EU-Chefs jedenfalls blicken bereits nach vorn. Drei Gipfeltreffen planen sie noch heuer. Schon in zwei Wochen wollen sie die stockenden Brexit-Verhandlungen voranbringen. Zwei Wochen vor Weihnachten wiederum ist der EU-Afrika-Gipfel geplant, sowie eine Befassung mit dem Maghreb. Und am 16. November lädt Merkel zu einem Sondergipfel zur China-Politik nach Berlin. „Niemand unter den 27 ist für Protektionismus“, erklärte ein Diplomat. „Aber alle sind sich einig, dass wir uns von China nicht länger linken lassen wollen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2020)

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