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Was bedeutet es heute eigentlich, christlich-sozial zu sein?

In der Debatte um das abgebrannte Flüchtlingslager Moria geht es oft um christliche Werte. Doch was bedeutet es heute, christlich-sozial zu sein? Und: Sind die Grünen gar christlich-sozialer als die ÖVP? Diskutieren Sie mit!

Wenn es um Flüchtlingspolitik geht, werden häufig „christlich-sozialen Werte“ aufs Tapet gebracht. Birgit Hebein (Grüne) warf Sebastian Kurz (ÖVP) etwa vor, in der Diskussion um die Aufnahme von Flüchtlingskindern aus Moria alle christlich-sozialen Werte über Bord zu werfen. Der Kanzler sieht das freilich anderes: „Wir haben die christlich-soziale Verantwortung, den Ärmsten der Armen vor Ort zu helfen, in Griechenland wie auch in vielen anderen Staaten dieser Welt", sagte Kurz, als er ein Soforthilfepaket verkündete.

Innenpolitik-Chef Oliver Pink fragte sich bereits im Dezember, wer die „wahren Christlich-Sozialen“ sind. Sein Fazit: „Was würde Jesus heute wählen? Möglicherweise grün. Allerdings würde man mit Jesus heute wohl auch keine Wahl gewinnen.“ Querschreiberin Gudula Walterskirchen konnte mit den Grünen und ihrer „neu entdeckte Affinität zum Christentum“ dagegen schon im Nationalratswahlkampf wenig anfangen.

Wo hat nun die christlich-soziale Politik ihren Ursprung? In Österreich hat die neue Massenpartei Karl Lueger begründet. Der aufgrund seines Antisemitismus sehr umstrittene Wiener Bürgermeister (1897 bis 1910) prägte Österreichs Hauptstadt. Pink hat ihn vor kurzem für unsere Zeitgeschichte-Serie porträtiert: Lueger hielt wenig von Liberalismus, sein Mittel war der Protektionismus. Auf christlicher Basis – in Abgrenzung zur sozialdemokratischen Bewegung. Stark beeinflusst wurde Lueger unter anderem von der Enzyklika „Rerum Novarum“, die Leo XIII., bekannt als Arbeiterpapst, 1891 veröffentlichte. Sie gilt als „Mutter aller Sozialenzykliken“.

Auch Papst Franziskus sind die Arbeiter nahe, auch er hat vor kurzem eine Sozialenzyklika veröffentlicht. „Fratelli Tutti“ steht im Zeichen der „Geschwisterlichkeit“, richtet sich gegen Nationalismus und das aktuelle Wirtschaftssystem. Der Papst fordert „eine neue Weltordnung“, eine „globale Ethik der Solidarität, der Liebe“. Indirekt hat auch erstmals ein Großimam, Ahmad al-Tayyeb, mitgewirkt.

Gastkommentator Hans Winkler zeigt sich von der Enzyklika wenig begeistert. Es sei „ein Plädoyer für universales Gutmenschentum", dem die analytische Qualität fehle. Etwas anders sieht es Dietmar Neuwirth. Er schreibt in einem Kommentar: „Der Papst ist die letzte Weltautorität. Eine Autorität, die der Menschheit insgesamt ins Gewissen redet“. Er stehe im Dienst aller Menschen, auch jener, die am Rand stehen.

Und was ist nun eigentlich mit den Flüchtlingen von Moria? Bettina Rausch, Leiterin der Politischen Akademie der ÖVPbezog in einem Gastkommentar Stellung. Sie schreibt, dass es vielen offenbar um ein „Signal der Menschlichkeit“ gehe, das Problem aber im Sinne der europäischen Aufklärung „verantwortungsethisch“ gelöst werden sollte  - also mit Blick auf die zu erwartenden Ergebnisse und Folgen einer Handlung. Denn: „Wird das Signal gesendet, dass Brandstiftung in einem Flüchtlingslager die Chance erhöht, eine Eintrittskarte nach Europa zu bekommen?" 

Für ihren Gastkommentar erntete Rausch unter den Lesern Zuspruch,  aber auch Kritik. Die ÖVP verleugne „ihre weltanschaulichen Wurzeln" endgültig, schreibt etwa Paul Gragl. Auch die Theologin Andrea Lehner-Hartmann geht mit Rausch wohl nicht d'accord. Sie sieht in der Flüchtlingsdebatte Anzeichen einer „rohen Bürgerlichkeit“. Benachteiligte Menschen würden für ihr Elend geächtet. Wer Solidarität, Nächstenliebe und Gerechtigkeit fordere, werde als naiv bezeichnet. „Christlich-sozial“ werde uminterpretiert, künftige Generationen würden lernen, „dass Menschen, die von Krieg und Verfolgung geflohen sind, als Bedrohung wahrgenommen“ werden.

(sk)

Diskutieren Sie mit: Was bedeutet es in der Flüchtlingsdebatte, christlich-sozial zu sein? Ist die ÖVP noch eine christlich-soziale Partei oder sind die Grünen die neuen Christlich-Sozialen?  Und: Würden Sie sich selbst als christlich-sozial bezeichnen?

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