Griechenland: Der Friedhof der Illegalen

(c) EPA (Stefanos Rapanis)
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Tausende Einwanderer versuchen über den Fluss Evros nach Europa zu gelangen. Viele überleben nicht. Ihre Leichen werden in Massengräbern verscharrt. Unter ihnen sind Flüchtlinge aus Afghanistan oder Somalia.

Alexandroupolis. Ein einsamer, unasphaltierter Weg auf einem Hügel in der Nähe des muslimischen Dorfs Sidiro an der türkisch-griechischen Grenze. An einer Stelle ist die Erde frisch aufgegraben. Kleine Erdhaufen bilden sich 20 Meter entlang des Weges. Ein paar Meter weiter im Feld steht ein Baum, vor ihm ein weißes Schild mit der schwarzen Aufschrift: „Friedhof der illegalen Immigranten, Muslimische Gemeinschaft von Evros“. Die Buchstaben sind schwer zu erkennen. Denn der Text ist von Gewehrkugeln durchsiebt.

Das makabre Schild ist der einzige Hinweis darauf, dass an diesem Ort Menschen verscharrt sind. Bei ihrem Versuch, in die EU zu gelangen, sind sie im Fluss Evros ertrunken. Unter ihnen sind zahlreiche Flüchtlinge aus Afghanistan, Somalia, dem Irak und aus Palästina, die von Schleppern an die türkisch-griechische Grenze gebracht werden. Auf Schlauchbooten oder schwimmend versuchen sie, von verschiedenen Stellen den 80 Kilometer langen Grenzfluss zu durchqueren. Viele kommen dabei ums Leben.

Leichen ohne Namen

Im nahen muslimischen Dorffriedhof gibt es keinen Platz, um die unbekannten Leichen zu begraben, erklärt der Imam von Sidiro, Mehmet Serif Damatoglou. Deswegen hat die muslimische Gemeinschaft von Evros diesen Hügel ausgesucht. Der Ort habe noch nicht einmal die erforderliche Genehmigung vom Gesundheitsamt, gibt Damatoglou zu. Er zögert kurz, bevor er die Zahl derjenigen nennt, die hier begraben wurden. „Es sind über 95 Menschen. Ihre Identität ist unbekannt. Wir waschen sie, wir wickeln sie in Leichentücher, wir öffnen das Grab und setzen sie nach islamischem Gesetz bei.“ Allein im Juni wurden 15 Leichen begraben. Somalische und afghanische Flüchtlinge hatten die gefährliche Reise nicht überlebt.

Die Provinz Evros ist eines der Haupteingangstore für Migranten aus Asien und Afrika. Nur wenige schaffen es auf die andere Seite des Flusses, wo sie in Auffanglager kommen. Noch bis vor einem Jahr gab es auch Minenopfer. 1974 wurden die Ostgrenzen Griechenlands nach der türkischen Invasion auf Zypern vermint. Offiziell hat sich Griechenland verpflichtet, die Felder bis 2008 zu räumen.

Seit der EU-Grenzschutz Frontex seine Kontrolle um die griechischen Inseln verstärkt hat, ist die Anzahl der Ankünfte in der Evros-Region drastisch gestiegen. In Orestiada wurden allein heuer laut Polizei mehr als 14.000 Menschen verhaftet, die die Grenzen überschritten hatten. Zum Vergleich: 2009 waren es 3500. Seit Jahresbeginn wurden 38 Menschen tot aufgefunden. Im Vorjahr waren es nur drei.

Suche nach Verwandten

Die Leichen befänden sich oft in einem sehr schlechten Zustand. Körperteile fehlten, manchmal sei es nicht einmal möglich, das Geschlecht zu erkennen. Im Auftrag Athens sollen die Leichen in den wenigen muslimischen Friedhöfen der Region bestattet werden.

Doch der Hügel ist kein Ort, an dem Menschen würdig begraben werden. Ein gelber Plastikhandschuh liegt auf der Erde, ein paar verstaubte Holzbretter sind auf dem Boden verstreut. Damit werden die Leichen in die Erde geschoben. Die Toten werden in Plastiksäcken aus dem Krankenhaus transportiert, nachdem ihnen eine DNA-Probe entnommen wurde und sie registriert worden sind.

„Vor ein paar Monaten sind Familienangehörige aus Pakistan gekommen und haben Verwandte gesucht. Wir haben sie gefunden und die Gräber geöffnet. Wir registrieren die Leichen mit Nummern, dem Datum und dem Ort, an dem sie aufgefunden wurden. Wir wissen, wo jede Leiche begraben worden ist“, so Imam Damatoglou. „Ungefähr.“

Internationale Organisationen sind entsetzt über die Zustände. „Ein Massengrab“, kritisieren die Aktivisten des Netzwerkes „Welcome to Europe“. Sie haben im Auftrag einer Afghanin, die ihren Mann vermisst, vor Ort recherchiert. „Die Verstorbenen werden ohne Respekt verscharrt. Auch eine Exhumierung ist nicht mehr möglich, falls Angehörige ihre Toten an einem anderen Ort beerdigen wollen“, so der Vorwurf der Organisation. „Die Existenz dieses Massengrabes an der EU-Außengrenze Griechenlands zeigt die ganze Brutalität des Grenzregimes.“ Die griechische Regierung hat noch nicht reagiert. Nur der Vizepräfekt von Evros, Ioannis Papaioannou, dementiert: „Die Leichen werden nach islamischem Brauch bestattet. Das ist kein Massengrab.“

Würde der Toten

Der Gerichtsmediziner der Provinz, Pavlos Pavlidis, ist der Erste, der die Leichen untersucht und ihnen ein Identitätszeichen gibt. „Wenn die Menschen massenhaft begraben werden, ist unsere Arbeit umsonst“, kritisiert er. Pavlidis hat die Staatsanwaltschaft und die Präfektur informiert, damit untersucht wird, wie der Imam bei der Beerdigung vorgegangen ist.

Mit einer spontanen Geste haben Unbekannte versucht, die Würde der Toten zu wahren. Wenige Stunden, nachdem die Medien die Nachricht verbreiteten, wurde das Wort „illegale“ auf dem Schild übersprayt.

AUF EINEN BLICK

An der türkisch-griechischen Grenze bei Orestiada wurden allein heuer laut Polizei mehr als 14.000 Menschen verhaftet, die die Grenzen überschritten hatten. Zum Vergleich: 2009 waren es 3500. Seit Jahresbeginn wurden 38 Menschen tot aufgefunden. Im Vorjahr waren es drei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2010)

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