Die Ich-Pleite

Kommst du zu Weihnachten nach Hause?

Carolina Frank
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Pusteln, Magen-Darm-Grippe oder Riesenauftrag? So eine Ausrede wie heuer gab es noch nie.

Schon bald muss ich wieder eine Antwort auf die wichtigste Frage des Jahres geben: Kommst du zu Weihnachten nach Hause? Früher sagte ich manchmal: Oje, heuer geht es leider nicht. Stellt euch vor: In der Früh wach ich auf, und mein ganzer Körper ist mit roten Pusteln übersät! Es juckt fürchterlich. Oder: Ich habe mir bei der Weihnachtsfeier ihr wisst schon, einmal im Jahr muss ich mit den Kunden Punsch trinken eine Erkältung geholt. Oder eine Magen-Darm-Grippe. Manchmal habe ich auch am 23. nachmittags einen Riesenauftrag bekommen, der bis zum 27. in der Früh fertigwerden hat müssen. Eigentlich eine Frechheit, aber was soll man machen als Selbstständige! Oder es ist eine Freundin vorübergehend bei mir eingezogen. Sie lebt in Scheidung, ihr Mann hat sie geschlagen, und jetzt will er ihr noch die Kinder wegnehmen! Man kann sie unmöglich über die Feiertage allein lassen.

Heuer werden mich meine Eltern auch fragen, ob ich zu Weihnachten heimkomme. Und ich werde sagen: Ich würde so gern, doch da gibt es ein tödliches Virus, das vor einem Jahr in China entdeckt wurde. Es wütet seit vielen Monaten und hat rund um die Erde schon eineinhalb Millionen Menschen das Leben gekostet. Es greift die Lungen an und man bekommt keine Luft mehr. Die Intensivstationen können die vielen Schwerstkranken gar nicht mehr aufnehmen. Mittel dagegen gibt es keines, und eine Impfung kommt frühestens Anfang nächsten Jahres auf den Markt. Selbst wenn ich mit einer Antiviren-Mund-Nasen-Schutzmaske im Zug sitze, könnte es sein, dass ich euch anstecke. Und als ältere Patienten seid ihr besonders gefährdet. Dann werden meine Eltern lachen und sagen: So eine schlechte Ausrede hast du ja noch nie gehabt!

("Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 18. 12. 2020)

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