Was fehlen wird

Was wären wir nur ohne die Briten

1215 zwangen die Barone König Johann I., die Magna Charta zu unterschreiben. Das zeigt die satirische Illustration von 1850.
1215 zwangen die Barone König Johann I., die Magna Charta zu unterschreiben. Das zeigt die satirische Illustration von 1850.(c) Getty Images (Print Collector)
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Die Insulaner haben uns das Glück der Freiheit vorgelebt, Demokratie und Marktwirtschaft, demütiges Denken und Respektlosigkeit vor der Obrigkeit. So long, Brits. Nehmen wir es mit Humor – am besten mit dem euren.

Wer ein richtiger englischer Gentleman war, erkundete Europa auf einer „Grand Tour“. Dazu gehörte Anfang des 19. Jahrhunderts, Goethe in Weimar einen Besuch abzustatten. Der als Sehenswürdigkeit missbrauchte Dichter staunte über „Siebzehnjährige“, die sich in der Fremde „keineswegs fremd und verlegen“ fühlten, sondern „so voller Zuversicht und so bequem“ auftraten, „als gehöre die Welt überall ihnen“. Seufzend fügte der Geheimrat hinzu: „Das ist es denn auch, was unseren Weibern gefällt und wodurch sie in den Herzen unseren jungen Dämchen so viele Verwüstungen anrichten.“ Woran lag es? Nicht an „Geburt und Reichtum“, sondern an ihrer „Courage“, „das zu sein, wozu die Natur sie gemacht hat“. Was gab ihnen diesen Mut? Das „Glück der persönlichen Freiheit“. Es mache aus ihnen „komplette Menschen. Auch komplette Narren mitunter, das gebe ich gerne zu.“

Lockes Tabubrüche

Glück durch Freiheit also. Für den Philosophen John Locke lag die Vervollkommnung des Menschen im „Streben nach wahrem Glück“. Was heute banal klingt, hatte Ende des 17. Jahrhunderts noch häretische Sprengkraft, war doch keine Seligkeit im Jenseits gemeint, sondern ein ganz irdisches Glück. „Pursuit of happiness“ kopierten die Amerikaner in ihre Unabhängigkeitserklärung, zusammen mit „life and liberty“ – unveräußerliche Rechte, die jeder Souverän zu schützen habe.

Missbraucht ein Herrscher seine Macht, erklärte Locke, müsse er zum „Feind der Menschheit erklärt und entsprechend behandelt werden“. Also abgesetzt, zur Not geköpft, weil er den Gesellschaftsvertrag mit den Bürgern gebrochen hat. Solche kühnen Ideen führten zur Glorreichen Revolution, der „Bill of Rights“, zu Parlamentarismus und moderner Demokratie. Voltaire konnte 1734 Bilanz ziehen: „Der römische Bürgerkrieg endete in Unfreiheit, der englische in der Freiheit.“

Angefangen hat alles freilich viel früher, mit der Magna Charta. Wir müssen diesem König Johann I. fast dankbar sein, dass er so streitsüchtig, heimtückisch und grausam war, wie die Quellen ihn schildern. Hätte er die Barone nicht ständig provoziert, vor allem mit immer höheren Steuern, hätten sie die Fronde kaum gewagt. So aber rangen sie ihm 1215 die „Große Urkunde der Freiheiten“ ab. Zunächst garantierte sie nur dem Adel ein ordentliches Gerichtsverfahren und Schutz vor herrscherlicher Willkür. Aber ein Anfang war gemacht, für die Gewaltenteilung wie für die Menschenrechte, weltweit.

Vor Ort bröckelte der Respekt vor der Obrigkeit immer weiter. Ein deutscher England-Reisender schrieb im 17. Jahrhundert: „Das Bewusstsein der Freiheit und der Schutz der Gesetze verursacht, dass der gemeine Mann gegen die ersten Männer des Staates nur geringe Achtung zeigt, es sei denn, dass sie durch ihr Betragen Popularität erworben haben.“ Ein anderer Reiseautor hörte „wer weiß wie oft“ sagen: „Unser König ist ein Dummkopf.“ Noch mehr faszinierte ihn der rüde Ton der Parlamentarier, die der Anrede „Honourable Member“ oft „Beleidigungen und Grobheiten“ folgen ließen. Die humorige Note gefiel später Heinrich Heine: „Je wichtiger ein Gegenstand ist, desto lustiger muss man ihn behandeln. Das wissen die Engländer, und daher bietet ihr Parlament ein heiteres Schauspiel“, fernab vom Bierernst der Deutschen und dem Pathos der Franzosen. Wenn aber schon Volksvertreter sich nicht so wichtig und gegenseitig auf den Arm nehmen, dann das Volk erst recht. Und so bildeten die freien Insulaner jene Eigenschaften aus, über die wir bis heute staunen: Sie sind selbstbewusst und selbstironisch, schrullig und spöttisch. Wie die Pflanzen in englischen Parks streben sie exzentrisch nach Unabhängigkeit und wahren doch Würde und Stil, eine leicht verlotterte Eleganz.

Auch dass die Marktwirtschaft auf der Insel immer schon freier und wichtiger war als auf dem Festland, geht auf den Adel zurück: Weil nur Erstgeborene Titel und Grundbesitz erbten, schlugen sich die restlichen Söhne in lukrativen bürgerlichen Berufen durch. Das machte die Briten zu einem „Volk von Krämern“, wie Napoleon lästerte. Voltaire war da weiser.

Die Börse sei „der Verehrung würdiger als viele Gerichtshöfe“, notierte er in London, denn „wie der Handel die Bürger eines Landes bereichert, so leistet er zugleich einen Beitrag zu ihrer Freiheit“. Klar, dass auch Adam Smith, der Seher der unsichtbaren Hand und Apologet des ungehinderten Marktes, von der Insel kam.

Dieser Schotte war nicht nur Ökonom, sondern auch Philosoph – und einem Denken verpflichtet, das sich in der Welt anders orientiert als das kontinentale. Auf dem Festland deduzierten Rationalisten und Idealisten ihre Systeme, bauten hierarchische Denkgebäude, stießen spekulativ zu höchsten Weisheiten vor – wohl auch deshalb, weil ihre Staaten vertikal organisiert waren: unten das Volk, oben der Herrscher.

Bei den Briten aber waren vor dem Gesetz alle gleich. Eine horizontale Gesellschaft macht auch Geistesgrößen bescheiden: Niemand überblickt das große Ganze. Also muss man in der Erkenntnis bei dem anfangen, was am nächsten ist, bei der sinnlichen Erfahrung, der Empirie. Und auch das Recht lässt sich dann nicht aus hehren Prinzipien ableiten. Es tastet sich im „Case Law“ langsam voran und lernt laufend dazu.

Warum noch eine Königin?

Wer das Understatement kultiviert, schreibt zudem anders: klar, einfach, verständlich, ohne abgehobenen Jargon, der hoch über den Dingen des Alltags schwebt. Man lege eine Seite Hegel neben eine Seite Hume und spüre eine Kluft, die tiefer ist als der Ärmelkanal.

Auch in der Politik misstrauten die Briten seit jeher weltfremden Theorien. Sie näherten sich lieber pragmatisch und in kleinen Schritten einer besseren Gesellschaft an. Weshalb ausgerechnet sie, denen wir die Demokratie verdanken, noch immer eine Königin auf dem Thron sitzen haben – über die lachen und lästern darf, wer mag, die sich aber „durch ihr Betragen“ doch einige „Popularität erworben“ hat.

So preisen wir die Briten. Sie werden unserer Gemeinschaft fehlen, auch als Ausgleich, als insularer Gegenpol. Dass sie aber mitunter zu kompletten Narreteien wie dem Brexit fähig sind, geben wir gerne zu.

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