Rechtswissenschaft

Asylrecht: „Sie leben bei uns in Gefahr, nicht nur in Moria“

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In vielen Ländern erleben Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität Gewalt. Petra Sußner erforscht, wie geflüchtete LGBTIQ*-Personen in Österreich und der EU effektiver Schutz bekommen.

„Als Idee ist das Asylrecht ein sehr schönes Recht“, sagt Petra Sußner, die an der Berliner Humboldt-Universität zu Recht und Geschlecht forscht: „Es ist das Versprechen, dass wir Menschen uns jenseits von nationalstaatlichen Grenzen nicht sterben lassen.“ Trotzdem wird das Asylrecht sehr krisenhaft wahrgenommen. „Das hat sich spätestens seit 2015 zugespitzt“, sagt Sußner, die kürzlich mit einem LGBTIQ-Forschungspreis bei der Pride Biz Austria ausgezeichnet wurde.

Wenn die Rechtswissenschaftlerin von Asylrecht spricht, geht es um die völkerrechtliche Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention: Darauf baut das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf, von dem sich länderspezifische Rechtsordnungen ableiten. „Das Unionsrecht gibt viel vor, sodass nationale Rechtsordnungen sehr ähnlich sind“, sagt Sußner, die in Deutschland daher kaum „Übersetzungsarbeit“ leisten muss, wenn sie von Ergebnissen aus Österreich spricht.

Sußner arbeitet seit 2007 mit dem Asylrecht, als sie nach dem Jusstudium als Rechtsberaterin in der Schubhaft in Eisenstadt zu arbeiten begann. „Dass mir das Problem, das mein Dissertationsthema wurde, auffiel, hat vielleicht mit meinem eigenen Queersein zu tun“, sagt sie. Aus der Rechtspraxis kommend und mit der Erfahrung als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Österreichischen Verwaltungsgerichtshof schrieb Sußner ihre Dissertation an der Uni Wien über „Legally Queer: Asylberechtigung und Grundversorgung im Bereich von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität“. Unter dem Titel „Flucht-Geschlecht-Sexualität“ ist das Buch in der Juristischen Schriftenreihe des Verlag Österreich erschienen.

„Juristisch gesehen bietet das EU-Recht sehr guten Schutz für LGBTIQ*-Geflüchtete: Die Verfolgungsgründe Sexualität und Geschlecht müssen laut der Qualifikationsrichtlinie berücksichtigt werden. Nach der Aufnahmerichtlinie haben die Staaten während der Wartezeit im Asylverfahren vor geschlechtsspezifischen Gefahren zu schützen“, sagt Sußner: „Aber das greift anscheinend nicht.“

Unpassende Quartiere

Ihre Forschung deckt nun strukturelle Probleme auf. „Aus der Berichtslage wissen wir, dass es massive Gewaltsituationen in der Aufnahme gibt, vor allem unter den Geflüchteten“, sagt Sußner. Das betrifft z. B. Trans- und Inter-Personen, in deren Dokumenten noch das falsche Geschlecht eingetragen ist, woraufhin die Leute in unpassenden Quartieren landen. „Es gibt ein verpflichtendes Screening, um herauszufinden, ob Geflüchtete besondere Bedürfnisse haben: Darunter fällt auch der Gewaltschutz von LGBTIQ*-Personen. Doch es wird nicht effizient umgesetzt“, sagt Sußner. Sie schlägt vor, ein eigenständiges Standardverfahren zu etablieren und mehr psychologische Expertise und NGOs einzubeziehen. Auch die europäische Asylbehörde fördert eine bessere institutionelle Ermittlung von Schutzbedürftigen. „Wir dürfen nicht vergessen, dass so viele Menschen auch bei uns, während ihrer Aufnahme, in Gefahr leben – nicht nur in Moria oder weiter weg.“

Sußner, die aus den Legal-Gender-Studies der Uni Wien kommt, betont: „Wir brauchen hier geschlechterspezifische Expertise. Das Problem lässt sich mit juristischen Mitteln allein nicht lösen, die Rechtsgrundlagen gibt es ja.“ Dazu arbeitet sie mit dem Konzept der Heteronormativität.

„Das Denken in der Zweigeschlechtlichkeit, in einer heterosexuellen Norm, löst die Verfolgungssachverhalte aus und stellt sich zugleich dem Schutz entgegen“, sagt Sußner. Sie schlägt in ihrer Arbeit vor, wie sich in der alltäglichen Rechtspraxis diese Heteronormativität – und nicht die schutzsuchende LGBTIQ*-Person – als Problem ansprechen lässt. „Diese Perspektive wirkt sich dann auf so vielen Ebenen aus, etwa in der Frage, ob jemand seine Sexualität im Herkunftsland verstecken könnte oder es innerstaatliche Fluchtalternativen gäbe, wo keiner weiß, dass die Person homosexuell ist.“

Es braucht mehr Sensibilität

Sußner plädiert dafür, dass alle Beteiligten sensibler denken sollten: „Geschlechterspezifische Gefahren sind nicht allein das Problem von asylrechtlichen Herkunftsstaaten. Wir müssen Lösungen jenseits eines hierarchischen Mann-Frau-Systems finden, wenn wir dem Leben gerecht werden wollen.“

Das heißt auch Weggehen von der Normvorstellung des geflüchteten alleinstehenden Mannes. „Wenn eine transsexuelle Person womöglich auf der Flucht schon begonnen hat, Hormone zu nehmen, braucht sie dringend eine Weiterbehandlung und geschützte Räume. Derzeit gibt es maximal eigene Quartiere für Frauen und ihre Kinder“, sagt Sußner.

Die Frage, ob es geoutete Personen schwieriger haben als nicht geoutete, lässt sich nicht simpel beantworten. „Die sichtbar queere Person hat auf der Flucht und in der Aufnahme wahrscheinlich schon massive Gewalt erfahren“, sagt Sußner. Im Asylverfahren drohen zudem Fehleinschätzungen der Beamten, etwa dass der Mann „zu schwul“ wirke und übertreibe, um Asyl zu bekommen. „Oder es heißt, der wirkt gar nicht ,typisch‘ homosexuell.“

Hingegen hätten „unsichtbare Personen“ zwar weniger Gewalterfahrung erlebt, stoßen aber im Asylamt durch die verborgen gelebte Identität eher auf Unglaubwürdigkeit bei einem Coming-out oder z. B. dem Wunsch, hier als offen lesbische Frau zu leben. „Es gibt sehr langsam Bemühungen, die Sensibilität zu verstärken. Ein Beispiel ist die Queer Base in Wien. Sie bietet tolle Rechtsberatung für LGBTIQ*-Geflüchtete“, schließt Sußner.

LEXIKON

LGBTIQ* ist die Abkürzung für „Lesbisch, gay, bi-, trans-, intersexuell und queer“. Das Sternchen steht für weitere Geschlechtsidentitäten, auf die die genannten Bezeichnungen nicht zutreffen.

Heteronormativität bezeichnet die Weltanschauung, in der die Heterosexualität als soziale Norm angenommen wird. Queer ist ein gebräuchlicher Überbegriff für sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, die von dieser Heteronormativität abweichen.

„Flucht-Geschlecht-Sexualität“ heißt das Buch,das in der Juristischen Schriftenreihe des Verlag Österreich erschienen ist (Band 288).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2021)

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