Neue Waffen gegen chronische Schmerzen

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Rund 1,5 Millionen Österreicher leiden an chronischen Schmerzen. Viele setzen eine Therapie wegen gravierender Nebenwirkungen ab. Neue Mittel auch gegen neuropathische Schmerzen könnten Abhilfe schaffen.

Schmerzhaft: Spricht man über Schmerzen, so könnte dadurch das Schmerzgedächtnis alarmiert und aktiviert und auf diese Weise der Schmerz verstärkt werden. Laut einer deutschen Studie ist es nämlich zu befürchten, dass Gespräche über Leiden die Aktivität der Schmerzmatrix im Gehirn stimulieren.

Schweigen ist aber auch nicht Gold, denn: Wer still duldet, läuft Gefahr, dass er keine entsprechende Behandlung bekommt. Und dass es mit der Therapie der 1,5 Millionen chronischen Schmerzpatienten in Österreich ohnehin nicht zum Besten bestellt ist, ist hinlänglich bekannt. Bekannt ist ferner, dass viele Patienten eine Schmerzbehandlung wegen gravierender Nebenwirkungen abbrechen. Diesbezüglich gibt es Licht am Horizont.

„Die neue Substanz Tapentadol kann, was bisher kein anderes Medikament konnte. Sie vereint in einem Molekül erstmals zwei Wirkmechanismen, die beide einen erheblichen Beitrag zur Schmerzbekämpfung leisten“, erwähnt Hans Georg Kress, Leiter der Abteilung für spezielle Anästhesie und Schmerztherapie am AKH Wien und zukünftiger Präsident des Europäischen Dachverbandes der Schmerzgesellschaften EFIC. Bei der erwähnten Innovation handelt es sich um ein starkes Opioid mit einer Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmung ähnlich der Wirkung der Antidepressiva.

Viel weniger Nebenwirkungen

„Weil die neue Substanz beide Mechanismen in sich vereint und somit doppelt wirkt, kann man das Medikament niedriger dosieren, sodass es zu signifikant weniger Nebenwirkungen wie Übelkeit, Brechreiz, Verstopfung, Unsicherheit, Müdigkeit, Schwindel oder Benommensein kommt. Die Nebenwirkungen sind jedenfalls um 50 bis 70 Prozent geringer als bei allen anderen Opioiden, sowohl was die Häufigkeit als auch was die Intensität betrifft.“ Das Mittel, das bisher an mehr als 14.000 Patienten (auch am AKH Wien) getestet wurde, kann sehr breit eingesetzt werden: postoperativ bei Akutschmerzen, posttraumatisch nach Unfällen, bei allen Formen entzündlicher sowie bei vielen chronischen Erkrankungen. Auch bei den sehr schwer zu behandelnden neuropathischen Schmerzen (z. B. diabetische periphere Polyneuropathie oder Nervenwurzelreizung bei Bandscheibenvorfall) hat man bereits sehr gute Erfolge gesehen.

„Wir erwarten uns gerade bei neuropathischen Schmerzen eine bessere Wirksamkeit als wir sie bei allen auf dem Markt befindlichen Opioiden kennen. Tapentadol ist das am besten und breitesten untersuchte Schmerzmittel weltweit. Seit 10. August ist Tapentadol in 26 europäischen Ländern zugelassen. Mit seiner Markteinführung in Österreich ist allerdings nicht vor Ende 2011 zu rechnen“, vermerkt Kress, der beim weltgrößten Schmerzkongress in Montreal kürzlich über diese Substanz vor Schmerzexperten aus aller Welt referiert hat.

Auch bei Ärzten wenig bekannt

Neuropathischer Schmerz kann sehr quälend und ununterbrochen sein und die Lebensqualität enorm einschränken: „Trotzdem wird er leider auch noch vielfach von Ärzten nicht erkannt, obwohl allein ein Drittel der Diabetiker darunter leidet“, bedauert Renate Barker, Präsidentin von „Contra Dolorem“, der österreichischen Arbeitsgemeinschaft zur Schmerzbekämpfung und Schmerzforschungszentrum. Das neuropathische Schmerznetzwerk (Neuropathic Pain Network) schätzt die Verbreitung dieses quälenden Leidens auf sechs bis 7,7 Prozent. „Diese Nervenschädigung ist auch in Medizinerkreisen wenig bekannt“, kritisiert auch Martin Bischof, ärztlicher Direktor am Krankenhaus St. Elisabeth in Wien. Patienten pilgerten oft monatelang, ja mitunter jahrelang von Arzt zu Arzt, ohne dass ihnen geholfen werde. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 60 Prozent der Neuropathie-Patienten mit völlig ungeeigneten Medikamenten behandelt werden.

Geeignet könnten zwei neuartige Pflaster sein. Eines mit dem Wirkstoff Lidocain ist seit Kurzem auf dem Markt und hat vor allem bei postherpetischer Neuralgie (nach Gürtelrose), diabetischer Polyneuropathie sowie bei anderen lokalisierten Neuropathien signifikante Schmerzlinderung gebracht. Aber auch die Berührungsempfindlichkeit kann dadurch herabgesetzt werden (manche Patienten sind dermaßen empfindlich, dass sie nicht einmal mehr Kleidung vertragen). Als Nebenwirkungen treten selten allergische Reaktionen auf. „Da das Pflaster aber keine systemischen Nebenwirkungen hat und daher keine Interaktionen mit anderen Medikamenten zu befürchten sind, eignet es sich besonders für ältere Patienten, die viele Arzneimittel einnehmen müssen“, betont Kress.

Ein scharfes Pflaster

Das zweite Pflaster ist scharf: Es enthält den Wirkstoff Capsaicin, einen Inhaltsstoff von Chili, und zwar in der relativ hohen Konzentration von acht Prozent. Demzufolge brennt es auch anfänglich beim Auflegen und darf daher derzeit nur in Schmerzambulanzen angewandt werden. Die Anwendung ist ziemlich einfach: Das Pflaster bleibt eine Stunde oben, die – mitunter stark – schmerzlindernde Wirkung soll dann über drei Monate anhalten. Zu den Nebenwirkungen gehören wie erwähnt Brennen, Rötungen und vorübergehender Blutdruckanstieg.

Gegen Krebsschmerzen

Eine weitere Neuentwicklung sind Medikamente gegen Durchbruchsschmerzen bei Krebspatienten. Das sind extrem intensive Schmerzspitzen, die im Schnitt 30 Minuten dauern. „Hier braucht man Mittel, die sehr rasch helfen, da spielt jede Minute eine Rolle“, so Kress. Mit herkömmlichen Mitteln dauert es im Schnitt 35 bis 40 Minuten, bis eine relevante Erleichterung eintritt. Seit Ende 2009 gibt es einen Nasenspray und eine Schmelztablette, der Wirkstoff ist jeweils Fentanyl, ein starkes Opioid. „Nach fünf Minuten ist der Schmerz bei vielen Patienten um ein gutes Drittel vermindert. Das ist eine der schnellsten Schmerzreduktionen, die wir anbieten können.“

GEFÄHRLICHE NEBENWIRKUNGEN & HILFE

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Interview: Experte Reinald Brezovsky über die Fehler der Schmerzbehandlung

„Die Presse“: Sie sprechen von groben Unzulänglichkeiten in der Schmerztherapie. Wo orten Sie die Fehler?


Reinald Brezovsky: Infolge unserer Fünf-Minuten-Medizin hat der Arzt viel zu wenig Zeit, um sich mit Patienten und deren wahren Problemen auseinanderzusetzen. Da wird schnell ein Schmerzmedikament verschrieben und auf Wiedersehen. Vielleicht noch eine zehnminütige Heilmassage verordnet und ein bisschen Strom, das, was die Kasse eben zahlt.

Und das ist prinzipiell falsch?
Brezovsky: Nicht alles ist prinzipiell falsch, aber die Husch-Husch-Abfertigung in einer Kassenordination kann kaum zu einer ordentlichen Diagnose führen. Gerade in einer Anfangsphase wären viele Schmerzen leicht und ohne chemische Bomben zu behandeln. Viele Patienten werden unnötig zu chronischen Schmerzpatienten, weil zu Beginn einer Schmerztherapie unglaublich viel verabsäumt wird.

Was zum Beispiel?
Brezovsky: Man muss den Patienten als gleichwertigen Partner ernst nehmen und ihm zumindest zehn Minuten aufmerksam zuhören. Dann wird man vielleicht draufkommen, dass der seit Wochen währende Rückenschmerz des Herrn Maier von Problemen an der Arbeitsstelle stammt. Und da hilft das Medikament X allein auf Dauer ganz sicher nicht. Da sind Entspannungsübungen, Gespräche, Gymnastik und vielleicht eine wirklich gute Heil- oder Shiatsu-Massage viel eher angebracht. Was fehlt, ist die ganzheitliche Sicht auf die Probleme eines Schmerzpatienten, das Augenmerk wird viel zu sehr auf Einzelfaktoren wie Medikamente oder Operationen gerichtet.

Aber Schmerzmittel wirken doch?
Brezovsky: Ja, natürlich gibt es gute Schmerzmittel. Und, wo sie angebracht sind, sind sie auch wahre Schätze und oft auch unerlässlich. Aber erstens benötigen viele Patienten gar keine Chemie. Zweitens werden Analgetika nicht individuell, sondern meist nach dem Gießkannenprinzip verschrieben. Drittens wirkt nicht jedes Mittel bei jedem. Viertens brauchen viele immer mehr, immer stärkere Schmerzpräparate, was zu beträchtlichen und gefährlichen Nebenwirkungen führen kann. Viele Dialyse-Patienten haben ihren Nierenschaden von einem Schmerzmittelmissbrauch davongetragen.

Wie sieht eine gute Schmerztherapie aus?
Brezovsky: Am Anfang steht das Zuhören, der Arzt muss sich die Zeit nehmen, auf die soziale und psychische Situation seines Patienten einzugehen. Eine treffsichere und sinnvolle Schmerzbehandlung setzt neben der körperlichen Untersuchung ein ausführliches Gespräch voraus. Das und das Einbeziehen der Psyche des Patienten sind Grundpfeiler einer effektiven Schmerztherapie.

Und wie schaut die aus?
Brezovsky: Gerade bei anfänglichen Schmerzen, aber auch bei etlichen chronischen Schmerzen sind sanfte Körpertherapien durchaus hilfreich. Darunter verstehe ich etwa Osteopathie, Akupunktur, Elektro-Akupunktur mittels P-STIM. Das ist eine spezielle Vorrichtung, die am Ohr angebracht wird und die gewisse Akupunkturpunkte elektrisch stimuliert. Abschließend möchte ich noch sagen, dass ich nicht prinzipiell gegen Medikamente oder Operationen bin, ich bin schließlich Schulmediziner. Aber Schmerztherapie darf auf keinen Fall auf der alleinigen Verschreibung und Einnahme von Analgetika beruhen. Das führt kaum zum Ziel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2010)

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