Nicecore

Hollywoods neue Zeit der Zärtlichkeit

Universal Pictures International
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Hollywood hat die Macht der Sanftmut für sich entdeckt. Längst ist der Hang zur Nettigkeit tonangebend in der Film- und Serienwelt, auch ästhetisch setzt es Streicheleinheiten. Wer trägt die Verantwortung? Donald Trump? Corona? Und wer sind die Opfer der Wohlfühlwelle?

Hallo! Kurz eine Minute Zeit? Tom Hanks hätte da eine Bitte. Er würde sich aufrichtig freuen, wenn Sie einen Augenblick innehalten. Und sich all der Menschen besinnen, von denen Sie „ins Leben geliebt“ wurden. Kein Stress, ruhig Blut! Ihnen fällt schon jemand ein. So Hanks' Appell an ein trübseliges Gegenüber in der Filmbiografie „A Beautiful Day in the Neighborhood“ (2019, deutscher Titel: „Der wunderbare Mr. Rogers“). Es folgt ein Moment des Schweigens. Zeitgleich wandert der Blick des Stars unmerklich nach links, in Richtung Kamera, bis er uns direkt zu adressieren scheint. Ein Atemzug, schon ist der Spuk vorbei. Der Getröstete zerdrückt eine Träne, sein Wohltäter bedankt sich lächelnd: „Ich fühle mich schon viel besser!“

Gute Seele aus der Röhre

Hanks spielt Fred Rogers, eine US-Fernsehikone, berühmt dank der Kindersendung „Mister Rogers' Neighborhood“. In den turbulenten 1960ern bot sie Groß und Klein Zuflucht vor den Anfechtungen des Alltags, betörte mit Bodenständigkeit und Humor. Rogers erzählte Geschichten, besuchte freundliche „Nachbarn“, hatte weisen Rat parat. Als gute Seele der Nation beendete er jede Show mit einem Lied: „It's such a good feeling / to know you're alive.“

Sony Pictures

Ein löbliches Credo, das man in Krisenzeiten selten zu hören bekommt. Ist das vielleicht der Grund für das rezente Rogers-Revival in den USA? 2018 meinte der Filmkritiker David Ehrlich in einem Essay für das Online-Branchenblatt „IndieWire“: Ja. Nach dem Großerfolg der Rogers-Doku „Won't You Be My Neighbor?“ konstatierte er einen Optimismus-Trend im Kino, geboren aus dem dunklen Geist der Zeit. Und lieferte gleich das Schlagwort dazu: „Nicecore“, in ironischer Anlehnung an Hardcore. Filme dieser fiktiven Gattung würden sich verstärkt für Positives einsetzen, das Gute im Menschen hervorkehren und moralisch mit gutem Beispiel vorangehen.

Ehrlichs Liste mit Belegfilmen war kurz, doch der Begriff blieb hängen. Inzwischen sind drei Jahre ins Land gezogen, und die von ihm gefasste Tendenz macht keinerlei Anstalten, abzuflauen. Im Gegenteil: Die Optimismus-Offensive schreitet munter voran. Besonders Hollywood hat sich dem andauernden Kuschelkurs verschrieben, „Kindness“ lautet die neue Industrie-Devise. Das könnte man grob als „Güte“ oder „Freundlichkeit“ übersetzen: Wo bis vor Kurzem Sarkasmus und Gehässigkeit den Ton angaben, soll künftig rückhaltlose Rücksicht walten. Doch damit nicht genug: Ersprießliche, wohlgefällige, herzerwärmende Stoffe haben im Film allgemein Hochkonjunktur. Happy End? Immer her damit! Am deutlichsten (und am banalsten) macht sich diese Entwicklung im leidigen, totdiskutierten Bereich der Political Correctness bemerkbar. Hier äußert sich die neue Nettigkeit als erhöhte Vigilanz im Hinblick auf die stereotype Darstellung sozial Diskriminierter, was jedoch schnell zum überzogenen Eiertanz oder zur billigen PR-Masche verkommen kann. Weit interessanter ist der grundsätzliche Wandel gängiger Figurentypen und Erzählformen, der in fast allen Kinosparten zu spüren ist.

So hat es sich im Blockbuster-Kino eingebürgert, Bösewichte mit tragischer Vergangenheit auszustatten, die ihre Schandtaten zwar nicht rechtfertigt, aber doch unser Mitgefühl heischt. Oder sie gleich zu Helden zu machen, wie in „Joker“ (2019). Sogar Thanos, Massenmörder und Erzfeind der Avengers im Superheldenspektakel „Endgame“ (2019), durfte mehr Menschlichkeit an den Tag legen als sämtliche Filmwidersacher Arnold Schwarzeneggers. Radikaler Humanismus, moralische Komplexität? Klar. Aber auch ein Sicherheitsnetz: Kein Fehlverhalten darf für sich stehen, jede Anstandsverletzung braucht einen psychologischen Grund.

Glossar

Nicecore. Modebegriff für Filme mit optimistischer Grundhaltung.

Snowflake. Abfällige Bezeichnung für als übersensibel empfundene Menschen.

Safe Space. Schutzraum und Rückzugsort für die Auseinandersetzung mit Ausgrenzungserfahrungen.

Trigger Warning. Präventiver Hinweis auf möglicherweise irritierende Inhalte eines Unterhaltungsangebots.

Toxic Positivity. Überzeugung, dass negative Gedanken und Gefühle um jeden Preis vermieden werden müssen.

Poptimismus. Grundsätzlich wertschätzende Einstellung gegenüber Pop(-musik).

Im letzten „Wonder Woman“-Film sind die Bösen nicht mehr Täter, sondern Opfer – ihrer Komplexe, ihrer Traumata. Bis zuletzt versucht die Heldin, ihnen gut zuzureden. Und greift erst dann zu drastischen Maßnahmen. Die Amazonenprinzessin ist eine Galionsfigur des Wertewandels im Kassenschlager. Ihre männlichen Vorgänger suhlten sich in ihrem Schmerz, lösten alle Probleme mit Gewalt. Wonder Woman appelliert an die Vernunft. Und macht sich die Welt mit Liebe untertan. Meist bleibt sie dabei stoisch.

Nieder mit dem Ironiepanzer!

Anderswo fließen die Tränen, Gefühle sind wieder in. Statt spöttische Sprüche zu klopfen, weint sich der Action-Recke von heute aus, wie Chris Hemsworth als Supersöldner in „Extraction“ (2020): Seelenwunden müssen an die frische Luft. Auch im Arthouse-Kino heult man(n) sich gesund. Der gestrenge Vater in „Waves“ (2019) wird nach einem Schicksalsschlag weich, öffnet sich feuchten Auges seiner entfremdeten Tochter: Versöhnung. Gleichfalls im Fernsehen – der kanadische Sitcom-Überraschungshit „Schitt's Creek“ lebt wesentlich von der Verletzlichkeit seiner Protagonisten. Und von der Weigerung der Show, sich über selbige lustig zu machen. Sogar das Horror-Genre zärtelt: Am Ende des australischen Familiengrusels „Relic“ (2020) liegen sich Mensch und Monster friedlich im Arm.

Nine Stories Productions

Woher rührt diese Sehnsucht nach Sensibilität, nach sanften Storys und behaglichen Berührungsbildern? Für „Nicecore“-Wortschöpfer Ehrlich war die Ursache klar: Donald Trump (den er im betreffenden Text, ganz und gar nicht „nice“, als „Krebsgeschwür“ bezeichnete) habe mit seinem Rüpelgehabe die Sittenverrohung befördert und so ein Kulturkorrektiv provoziert. Doch Trumps Abgang hat dem Trend keinen Abbruch getan. Vielleicht, weil die Krisen geblieben sind: Corona, die Spaltung der Gesellschaft, die Zuspitzung politischer Konflikte. Also bleibt auch die Unterhaltungsästhetik auf Kurs. Und spendet weiterhin Streicheleinheiten. Im Einklang mit der Kernbotschaft von Trumps Nachfolger, Joe Biden, die da lautet: Heilung.

Einwände gibt es viele, der Eskapismus-Vorwurf liegt auf der Hand. Doch Weltflucht ist in Maßen nichts Verwerfliches. Und muss keinesfalls kunstlos sein. Etliche Traumfabrik-Sternstunden frönen erlesenem Kitsch: Man denke nur an das Weltkriegs-Verdrängungs-Musical „Meet Me in St. Louis“ (1944). Die Klage über Infantilisierung greift schon eher. Tatsächlich fühlt man sich vom neuerdings ungeheuer achtsamen Hollywood-Regime zunehmend wie ein Kind behandelt, dem keine Autschis zugemutet werden dürfen. Das schmälert den erzählerischen Horizont gewaltig: Im Volksmund heißt es ja, „nett“ sei die kleine Schwester von „scheiße“. Am schwersten wiegt aber das politische Gegenargument. Denn wenn abseits von Nischenproduktionen nur noch erbauliche Sujets zulässig sind, steht die Film- und Serienkultur mit einem Fuß im Feld der Propaganda. Und die Vorbildwirkung wird zur Verhaltensnorm. Dann ist das „Glücksdiktat“, beschrieben im Sachbuch von Eva Illouz und Edgar Cabanas, nicht weit: Über die Negation des Negativen sollen wir uns im Zeitalter der „Toxic Positivity“ psychische Unversehrbarkeit antrainieren, um als rundum sorglose Sonnenanbeter jede noch so niederschmetternde Erfahrung achselzuckend wegzustecken. Ein Selbsthilfe-Dogma für Hartgesottene.

Vom Poptimismus fortgespült

Doch so weit muss man den Gedanken gar nicht treiben. Es reicht ein Blick zurück in jene Ära, die landläufig als Hollywoods widerborstigste betrachtet wird: Im US-Kino der 1970er wimmelte es nur so von hoffnungslosen Weltbildern und kaputten Figuren, die versuchten, ihrer Zeit den Spiegel vorzuhalten, ohne zu verklären oder Kompromisse einzugehen. Manche fanden das defätistisch und öd. Andere trauerten, als die kritische Grundhaltung vom aalglatten Pop-Enthusiasmus der Folgedekade fortgespült wurde. Die 1980er sind heute Knotenpunkt filmischer Nostalgie: Stecken wir in der Zeitschleife fest? Droht der Verlust aller Ecken und Kanten? Schnürt uns die Kuscheldecke die Luft ab? Die Antwort ist entschieden undramatisch: Zärtlichkeit sells, zumal in harten Zeiten. Solang die Pandemie sich nicht vertschüsst, wird Hollywood dieser Maxime treu bleiben. Ein Nebeneffekt? Parallel zum Wohlfühlwunder werden an der Entertainment-Peripherie auch die Abgründe tiefer, die Gewaltdarstellungen extremer, etwa in deftigen Animationsserien wie „Solar Opposites“ oder „Invincible“. Dem Begriff „Nicecore“ wohnt nicht von ungefähr etwas Aggressives inne.

„What Do We See When We Look at the Sky?“
„What Do We See When We Look at the Sky?“New Matter Films

Die geschärfte, teilweise schon penetrante Sensibilität der Kinogegenwart hat aber auch Künstlern den Weg geebnet, deren breitflächiger Durchbruch davor undenkbar gewesen wäre. Ein Musterbeispiel ist Barry Jenkins, dessen Leinwand-Entwicklungsroman „Moonlight“ 2017 mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnet wurde. Frisch war daran nicht nur der Inhalt (eine Chronik des Erwachsenwerdens eines schwulen schwarzen Buben aus Miami), sondern auch die Inszenierung, die samtig dahinfloss, sich der Melancholie hingab und schwelgerischen Stimmungen mehr Bedeutung beimaß als narrativer Stringenz. Zudem unterwanderte Jenkins' Porträt seiner empfindsamen Hauptfigur bestehende Black-Cinema-Klischees harter und abgestumpfter Antihelden, die sich in verwahrlosten Armenvierteln gegenseitig den Garaus machen. Sein nächstes Werk, die James-Baldwin-Verfilmung „If Beale Street Could Talk“ (2018), malte die Liebesbeziehung seines Protagonistenpaares mit ähnlich filigranen Farben, gleichsam auf Wolke sieben schwebend: eine Wohltat.

Derzeit noch stärker präsent ist Chloé Zhao, dank ihrer jüngsten Arbeit „Nomadland“ (2020) selbst Oscar-Kandidatin. Die Regisseurin könnte mit ihrem gütigen Gesichtsausdruck glatt als „Nicecore“-Maskottchen durchgehen, doch ihre eindrucksvollen Filme lassen sich nicht auf einen simplen Begriff reduzieren. Auf den ersten Blick scheint „Nomadland“ gar nicht in die Riege der Zärtlingswerke zu passen. Schließlich geht es darin um eine ziemlich knorrige Frau (famos verkörpert von Frances McDormand), die am Rande der US-Gesellschaft als motorisierte Landstreicherin ihr Auskommen sucht.

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Die existenziellen Nöte ihres prekären Lebens werden von Zhao nicht verbrämt. Dennoch hat man das Gefühl, dass der Treibstoff der Vagabundin nie ausgehen wird. Auch weil fast alle Menschen, die sie trifft, freundlich und hilfsbereit sind. Sogar ihre bürgerlichen Verwandten bringen Verständnis für ihr Fluchtbedürfnis auf. Manchen Kritikern ist Zhaos Porträt des modernen Nomadendaseins nicht bitter genug, sie vermissen eine Anklage der Verhältnisse, die Menschen aus Wohnungen in Vans zwingen. Die Hauptfigur arbeitet im Film als Packerin bei Amazon, um ihre Wanderlust zu finanzieren. Das Geld sei gut, meint sie. Ist das nun Realismus auf Recherchebasis oder ausgeklügelte PR? Ohne Weichzeichner hätte es „Nomadland“ jedenfalls kaum zu einer Oscar-Nominierung gebracht. Unter diesem Gesichtspunkt verwundert nicht, dass Zhao mittlerweile einen Superheldenfilm für Disney abgedreht hat. Ihr künstlerisches Talent sollte man dennoch nicht abtun.

Netflix

Wem die nette Welle im Kino auf die Nerven fällt, kann sich indessen vor Augen halten, dass es Ausweichmöglichkeiten gibt: Nach wie vor finden sich ausreichend Filme für Wüstlinge, Grobiane und ungehobelte Klötze im cineastischen Ozean – zumindest auf Streaming-Plattformen und Festivals. Noch sieht nicht jeder Trailer aus wie Werbung für eine Handy-App voller pastelliger Oberflächen und possierlich blinkender Icons. Die Dosis macht das Gift, aber auch den Balsam. Glauben wir also an das Gute im Menschen. Blicken wir Mister Rogers ins Auge. Wie sang nochmal Roy Black? „Ein kleines bisschen Zärtlichkeit / ist etwas, das für immer bleibt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2021)

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