Auf sich allein gestellte Kinder im Dorf, im Wald: Zeugen solche Geschichten auch von einer Generationen- Entfremdung?
Sommerlektüre

Wie der Zeitgeist durch Romane weht

Man kann Sommerlektüre auf viele Arten empfehlen – etwa mit einem Motivstreifzug durch neue Romane. Eine Einladung zum Lesen und Weiterdenken.

Warum veröffentlichen gleichzeitig zwei Schriftstellerinnen auf Deutsch einen Roman, in dem eine Computerpionierin des 19. Jahrhunderts eine tragende Rolle spielt? Warum schreiben gleichzeitig zwei in Oberbayern geborene Autoren eine romantische Liebesgeschichte, in der die Angebetete einen leichten Gehfehler hat? Wenn sich auf dem Buchmarkt Motive doppeln, mehren oder sogar häufen: Ist es Zufall oder Zeitgeist? In manchen Fällen ist es klar – etwa bei der seit Jahren anhaltenden literarisch inszenierten Landflucht, der zunehmenden Verbindung von Kolonialismus und Holocaust oder der Thematisierung von Identitätsfragen. Aber wie ist es mit Geschichten über Dörfer, in denen sich die Welt der Erwachsenen völlig von jener der Kinder abkoppelt, die Elterngeneration rätselhaft abwesend ist? Oder mit rätselhaften Seelenwanderungen quer durch die Zeiten? Und überlebt der literarische Road-Trip, einst Vehikel innerer Befreiung, den Klimawandel? Eine Trip durch neue Romane.

Die leicht hinkende Geliebte

Zeigen Sie mir die attraktive hinkende Frau in der Literatur! Das englischsprachige Online-Magazin „The Pudding“ hat sich einmal 2000 Bücher vorgeknöpft und eine Statistik über die körperlichen Eigenschaften erstellt, mit der in der Literatur typischerweise Männer und Frauen beschrieben werden. Da haben wir's, schwarz auf weiß: Hinken war immer Männersache. In der Regel sind diese Männer im Kampf, im Krieg verwundet worden. Oft deutet die äußere Wunde auf eine innere. Der starke Mann, der dennoch zerbrechlich, bedürftig ist – für junge Romantikerinnen ist das unwiderstehlich. Aber eine Frau mit leichtem Gehfehler, die zum Gipfel männlicher Sehnsucht wird? Seit dem Frühjahr gibt es sie im Doppelpack. In Steffen Kopetzkys Roman „Monschau“ verliebt sich ein Arzt, der 1962 in der Eifel einen Pocken-Ausbruch bekämpft (mit deutlichem Covid-Bezug), in eine künftige Firmenerbin. Ihre Gehweise zeigt noch leichte Spuren einer schweren Polio-Erkrankung als Kind, die sie in den Rollstuhl brachte. Und in „Seeland, Schneeland“ von Mirko Bonné verzehrt sich ein junger Mann nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Spanische-Grippe-Pandemie nach der Liebe seines Lebens Ennid Muldoon, die stattdessen ihrem im Krieg gefallenen Verlobten nachtrauert. Die hinkende Vera und die hinkende Ennid ähneln sich: Beide sind sie für ihre Zeit äußerst selbstständig und emanzipiert, bewegen sich allein durch die Welt. Zugleich tragen beide eine innere Verletzung mit sich herum. Warum diese Parallele? Doch nicht, weil beide Autoren in Oberbayern geboren sind? Vielleicht erlaubt dieses leichte Hinken den männlichen Protagonisten ja, ein wenig von der verlorenen Rolle des Beschützers zurückzugewinnen – Beschützer in der Pandemie, Beschützer der Weiblichkeit. Vielleicht müssen, wie früher die starken Männer, nun die starken Frauen ein wenig hinken, damit sie nahbar werden. Und übrigens erzählen beide Romane von einer romantischen „großen Liebe“, die aus der Hochliteratur fast verschwunden ist. Das mag „retro“ wirken, ist heute aber fast schon wieder mutig. Zwei Lektüre-Empfehlungen also. Für das rundum gelungene, kurze „Monschau“ sowieso. Und mit Einschränkung für den Wälzer „Seeland, Schneeland“: trotz zunehmender Schwächen lohnenswert für Urlauber mit viel Zeit.

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