EU-Grenzschutz

Frontex an allen Fronten

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Vom Mittelmeer über das Baltikum bis bald an den Ärmelkanal ist die Grenz- und Küstenwache im Einsatz. Dahinter steckt auch politisches Kalkül.

Knapp 10.000 Migranten, die binnen eines Jahres den Ärmelkanal in Richtung England zu passieren versuchten. Ein belarussischer Diktator, der Iraker eigens nach Minsk einfliegen lässt, um sie als politisches Druckmittel über die grüne Grenze nach Litauen zu schicken. Und dazu noch die Sorge vor dem Massenexodus aus Afghanistan, falls die islamistischen Taliban ihren Siegeszug fortsetzen – Europas Außengrenzen geraten sechs Jahre nach dem Krisensommer 2015 von allen Seiten unter Druck. Gewiss bei Weitem nicht so intensiv wie damals: Ein Treck von einer Million Menschen durch Südosteuropa in den reichen Nordwesten ist realistischerweise für die absehbare Zukunft nicht zu erwarten. Doch es kriselt an vielen Stellen, die bisher keine Rolle in der politischen Debatte über die Sicherung von Europas Außengrenzen spielten. Und an all diesen neuen Druckpunkten erschallt rasch der Ruf nach Frontex, der Grenz- und Küstenwache der Union.

„Ich habe Frontex selbst kontaktiert und ersucht, sich um Nordeuropa zu kümmern“, sagte Frankreichs Innenminister, Gérald Darmanin, am Wochenende anlässlich eines Besuchs der französischen Küstenwache in Calais am Ärmelkanal. Mehr und mehr Wirtschaftsmigranten versuchen, diese Meerenge, bei der man an klaren Tagen von der französischen Seite freien Auges die Klippen von Dover sehen kann, zu überqueren. Laut den französischen Behörden gab es im vorigen Jahr rund 9500 irreguläre Überfahrten beziehungsweise entsprechende Versuche. Das waren viermal so viele wie im Jahr davor.

Lukaschenkos Migrationswaffe

Aus gänzlich anderen Gründen steigt knapp 1800 Kilometer weiter östlich der Druck auf die Außengrenze der Union. Der belarussische Machthaber, Alexander Lukaschenko, setzt irreguläre Migranten gezielt als Mittel ein, um Litauen zu strafen. Die baltische Republik ist nämlich das Zentrum der belarussischen Dissidenten im Exil. Und so organisiert die belarussische Regierung Direktflüge aus Bagdad nach Minsk, um vorrangig Iraker zur illegalen Überquerung der Grenze zu Litauen zu animieren. Zimperlich geht das Regime nicht mit diesen Menschen um: Es mehren sich Berichte, dass Kleinkinder von den Behörden betäubt werden, um keinen Lärm zu machen. Diese Kampagne schlägt sich in den Statistiken der litauischen Grenzschützer nieder, allein am Dienstag griffen sie 171 irreguläre Migranten auf. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2020 waren es 81, im Jahr davor 46. Heuer hingegen haben schon 3027 Migranten versucht, von Belarus nach Litauen zu kommen. Und das Problem droht die Nachbarstaaten zu erfassen: Am Montag griff die lettische Grenzpolizei neun Iraker an der eigenen Grenze zu Belarus auf.
Auch in Litauen erscholl schnell der Ruf nach Frontex. Und die EU-Agentur mit Sitz in Warschau lieferte rasch: Vor vier Wochen begann der Einsatz, bis dato sind 35 Frontex-Beamte in Litauen, dazu kommen Fahrzeuge und technisches Gerät.

Frontex hat wenig eigenes Gerät

Gut ein Dutzend Frontex-Operationen gibt es derzeit – vom Westbalkan, wo die Agentur seit vorigem Jahr erstmals auch außerhalb der EU Beamte im Einsatz hat, um Menschenschmuggel, Drogenhandel und Waffenschieberei zu bekämpfen, über die Grenze zur Türkei, wo die griechische Küstenwache und Grenzpolizei zu Wasser und an Land unterstützt wird, und sämtliche Migrations- und Schmuggelrouten vor Nordafrikas Küsten bis hin zu den Kanarischen Inseln im Atlantik, die in letzter Zeit wieder zum Magneten für irreguläre Bootsmigranten aus Westafrika werden. Dazu kommt der neue Einsatz im Baltikum sowie mit großer Sicherheit der von Frankreich erwünschte Beistand am Ärmelkanal (ein Frontex-Sprecher konnte der „Presse“ am Mittwoch nicht Auskunft geben, wie die Dinge stehen).
Doch bei näherer Betrachtung drängt sich der Verdacht auf, dass einige dieser Operationen weniger der tatsächlichen Notlage entspringen als vielmehr politischem Kalkül. Innenminister Darmanin zum Beispiel nannte Drohnen, Nachtsichtgeräte und Wärmebildkameras als Form des Beistands, den er sich von Frontex wünscht – als hätte Frankreich nicht genug von diesem Gerät. Zumal Frontex derzeit kaum eigenes Material besitzt; es kommt großteils von den Mitgliedstaaten. Auch ist unklar, welchen Effekt 35 Frontex-Beamte an der langen und unübersichtlichen grünen Grenze zwischen Litauen und Belarus wirklich haben können.

Nationale Probleme „europäisieren“

Eher liegt der Nutzen darin, nationale Probleme zu „europäisieren“. Also dafür zu sorgen, dass beispielsweise irreguläre Migration über den Ärmelkanal – ein bis dato rein französisch-britisches Thema – auf EU-Ebene Aufmerksamkeit bekommt. „Da ist etwas dran“, sagte ein Kommissionsbeamter zur „Presse“. „Die Mittel der Agentur sind derzeit noch nicht enorm, und in manchen Fällen kann die politische Rolle wichtiger sein.“

Das ist ein zweischneidiges Schwert. Denn misslingt es, die Grenzkrisen zu entschärfen, kann Frontex schnell zum Sündenbock werden. Und damit auch die EU. „Das Risiko besteht“, erklärte der Beamte. Doch er verwies darauf, dass das Jahresbudget der Agentur von zuletzt rund 540 Millionen Euro auf eine Milliarde Euro erhöht wird: „Die Mittel sind auf dem Weg.“

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