Literatur

Gedichtband „schrift für blinde riesen“: Unverbrauchte Glut der Tage

Nach seinen Prosa-Erfolgen kehrt Lutz Seiler mit dem Gedichtband „schrift für blinde riesen“ zur Lyrik zurück.

Von Abwesenheit in der Sprache des Gedichts und von der „Chance, als Schauender gleichsam zurückzutreten, die Dinge wahrzunehmen ohne Absicht, statt ihnen mit unseren Bestimmungen zuvorzukommen“, sprach Lutz Seiler vor zwanzig Jahren in den „Wiener Vorlesungen zur Literatur“ (nachzulesen im Essayband „Sonntags dachte ich an Gott“). So absichtslos ist Seiler auch in seinem neuen Gedichtband, „schrift für blinde riesen“, unterwegs, und diese Absichtslosigkeit gelingt durch die Abwesenheit des Ich, das den Blick nicht verstellt.

In den Blick kommen schwedische Landschaften (Seiler lebt seit über zehn Jahren auch in Stockholm), Kindheitserinnerungen und scheinbar nebensächliche Dinge. Oft hat dieser Blick keinen festen Ort, die Gedichte sind sozusagen im Gehen geschrieben. „man sieht / nur was vorüberzieht“ steht als nicht ausgewiesenes Zitat in einem der letzten Gedichte – und findet seine Fortsetzung in dem Schlusssatz: „heißt /bleiben, stottern, weiterschreiben“. Ein Gedicht schließt mit den Zeilen „sitzen, trinken / gehen & vergessen im wandernden flickwerk des lichts / gehen & gehen“.

Unterwegs sind auch die blinden Riesen im Gedicht „heimwärts, im regen“, und es heißt von ihnen: „das wasser / hatte die erde gewaschen, der kies / war schrift für blinde riesen in der finsternis, ein jeder schritt /ging jetzt von anfang an“. Im darauffolgenden Gedicht ist der Sprecher ein Teil dieser Riesen und konstatiert: „wir haben / schon länger den blick / blinder riesen, das lachen ins nichts / mit erhobenem kinn, dorthin / wo die welt vermutet werden könnte ?“ Aber die Riesen haben auch eine mythologische Tiefenschärfe – der Zyklop Polyphem kommt ins Spiel.

Schon diese Zitate zeigen, wie genau kalkuliert Lutz Seiler in seinen Gedichten, die kaum einmal mit erlesenen Wörtern prunken, die Zeilenbrüche setzt. Dazu handhabt er mit leichter Hand die Reime – er setzt sie nur in der Regel nicht an das Zeilenende, sondern lässt sie irgendwo dazwischen aufklingen. Aber sie gehen nicht unter, man „hört“ sie auch, wenn man lautlos liest. Der Klangreichtum, der wie von selber zu kommen scheint, macht einen wesentlichen Teil der Faszination dieser Gedichte aus.

„aus der kindheit tauchen tauben auf / & wollen reden“ heißt es im Gedicht „nichts geschieht“. Aber nicht nur sie tauchen auf, und das Reden von Kindheit und Jugend führt in Seilers Poesie keineswegs nur in die Natur – und schon gar nicht in die Idylle. Sehr viel DDR-Vergangenheit kocht da hoch, von der Schleifung des Dorfes Culmitzsch für den Uranerzbergbau (Seilers Familie verlor ihr Heimatdorf), und von Schikanen bei der Armee ist die Rede. Die Anmerkungen am Ende des Bandes zeigen, dass etliche der Namen und Bilder in diesen Gedichten sehr konkret sind und voller historischer, vor allem aber auch literarischer Anspielungen stecken.

Buch

Für eine Erzählung wurde Lutz Seiler mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet, sein Debüt-Roman „Kruso“ erhielt den Deutschen Buchpreis, für den Roman „Stern 111“ bekam er im Vorjahr den Preis der Deutschen Buchmesse in der Kategorie Belletristik; sein Werk wurde in 25 Sprachen übersetzt. Es sind nicht nur einzelne Gedichte, sondern es ist die Gesamtkomposition des neuen Bandes, die einen glücklich macht, dass Lutz Seiler über seinen Prosa-Erfolgen die Lyrik, mit der er begonnen hat, nicht aufgibt. Denn die besten Gedichte darin sind, was ein Gedichtschluss benennt: „so kostbar wie / die unverbrauchte glut der tage, die / ungelösten fragen“.Lutz Seiler

Schrift für blinde Riesen

Gedichte. 108 S., geb., € 24,70 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2021)

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