Religion

Die Kirche als Opfer der Pandemie?

Die Zahl der Kirchenaustritte steigt.
Die Zahl der Kirchenaustritte steigt.Die Presse, Fabry
  • Drucken

Im Vorjahr wurde die zweithöchste Zahl an Kirchenaustritten registriert. Der Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner spricht von einem „dramatischen Übergang“.

„Wir leben in einer Zeit des dramatischen Übergangs der Kirche von einer konstantinischen Gestalt in eine nachreformatorische moderne Gestalt, wo sie nicht mehr von Staat und Gesellschaft gedeckt wird“, erklärt der Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner. Es ist einer der Gründe, mit denen er im Gespräch mit der „Presse“ das erneute Hochschnellen der Zahl der Kirchenaustritte erklärt.

72.055 Personen waren es im soeben abgelaufenen Jahr, die der Kirche den Rücken gekehrt haben. Die Zahl der Kirchenaustritte ist im Vergleich zum Vorjahr um 22,7 Prozent gestiegen. Das haben die Diözesen der katholischen Kirche am Mittwoch mit der aktuellen Kirchenstatistik bekannt gegeben.

Den Kirchenaustritt nachgeholt

Demnach gibt es mit Stichtag 31. Dezember 2021 in Österreich 4,83 Millionen Katholiken. Im Vorjahr waren es noch 4,91 Millionen. Das entspricht somit einem Rückgang um rund 1,6 Prozent.

Paul Michael Zulehner führt im Gespräch mit der „Presse“ die Entwicklung auch auf das Jahr 2020 zurück. Geschlossene Kirchen, Gottesdienste via Internet und die Haltung der Kirche zum Coronavirus hätten im ersten Pandemiejahr die Situation der Kirche nicht unbedingt begünstigt. „Es haben womöglich viele den Kirchenaustritt nachgeholt, nachdem im Vorjahr die Gemeinden und Standesämter nicht so leicht zugänglich gewesen sind“, sagt Zulehner.

Die ebenfalls veröffentlichte Detailstatistik für 2020 macht die Auswirkungen der Coronapandemie auf das kirchliche Leben deutlicher. So gab es im ersten Coronajahr auch starke Rückgänge bei Taufe, Erstkommunion, Firmung und Eheschließung.

Jeder Dritte überlegt Austritt

Der emeritierte Universitätsprofessor gibt außerdem zu bedenken, dass die Menschen, anders als frühe, Religionsfreiheit genießen. „Zur Zeit von Joseph II., Kaiserin Maria Theresia oder noch früher von Ferdinand I. war man in Österreich noch gezwungen, Mitglied der katholischen Kirche zu sein. Andernfalls wurde man ins Jenseits oder Ausland verwiesen“, sagt Zulehner. Heute könne das jeder selbst entscheiden und überlegen. In Zulehners Studie aus dem Jahr 2020 habe jeder Dritte überlegt, auszutreten.

545 Personen – und damit mehr als 2020 (461) – machten 2021 von ihrem Recht auf Widerruf Gebrauch. Damit sind Menschen gemeint, die zunächst austreten wollten, nach einem Kontakt mit kirchlichen Verantwortlichen und innerhalb einer Dreimonatsfrist aber wieder Abstand von diesem Schritt nahmen. „Wir haben sozusagen eine leicht steigende Entwicklung, die aber historisch-epochal vorhersehbar ist, weil sie der Preis für die Transformation einer verordneten Kirche in eine frei gewählte Kirche ist. Und das muss die Kirche meistern, indem sie die Kirche vom Evangelium her viel attraktiver wiederbelebt und die Leute gewinnt, dabei mitzumachen“, sagt Paul Michael Zulehner.

Er sieht den Kirchenbeitrag auch als einen Grund des Austritts und macht es anhand eines Beispiels fest: „Es ist so, als wäre ich bei einem Sportverein und müsste dort zahlen – oder bei einem Taubenzüchterverein. Wenn mich Taubenzüchten interessiert, dann zahle ich auch dafür und bin gern dabei. Also, es muss mich wirklich interessieren.“

Impfpflicht als Booster

Naturgemäß ist die Zahl der Austritte je nach Diözese unterschiedlich stark gestiegen, einen Rückgang hat es nirgends gegeben. So verzeichnet die Diözese Innsbruck mit 38,6 Prozent die höchste Steigerung, wenngleich dort die absolute Zahl der Austritte mit 5076 vergleichsweise niedrig ist. In Tirol verzeichnete man Ende 2021 noch einmal einen deutlichen Anstieg an Austritten. Dies könnte darauf zurückgeführt werden, dass sich unmittelbar vorher Bischof Hermann Glettler besonders deutlich für die Impfpflicht ausgesprochen hatte.
In der Erzdiözese Wien hingegen, die auch Teile Niederösterreichs erfasst, traten 2021 insgesamt 19.767 Menschen aus der Kirche aus, was einem Anstieg um 19,8 Prozent entspricht. Den niedrigsten Anstieg verzeichnete die Diözese Gurk-Klagenfurt mit einem Anstieg von 11,5 Prozent.

Um in Zukunft wieder weniger Katholikenabgänge zu verzeichnen, brauche es laut dem Theologen Zulehner „eine Offensive zu einer Verstärkung der Anhänglichkeit der Menschen an das Evangelium“. Zusätzlich müsse man schauen, dass nicht zu viele Hindernisse im Weg stehen. Dazu zählt er Themen wie die Rolle der Frau in der Kirche oder den Zölibat „und all die schwierigen Themen der Kirche, die hoffentlich bald irgendwie bereinigt werden.“

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.