Stenografie

Charles Dickens' Geheimschrift nach 163 Jahren entschlüsselt

Dickens "lesbare" Briefe erfreuen sich in englischen Auktionshäusern großer Beliebtheit.
Dickens "lesbare" Briefe erfreuen sich in englischen Auktionshäusern großer Beliebtheit.REUTERS
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Seit über einem Jahrhundert bliebt ein handgeschriebener Brief in Charles Dickens' eigener Kurzschrift ungelesen. Nun hat ein Programmierer geholfen, das Geheimnis aus 1859 zu entschlüsseln.

Symbole, Punkte und vereinzelte Striche – was für viele aussehen mag wie wildes Gekritzel ist Charles Dickens persönliche Geheimschrift und als solche lange Zentrum vieler Spekulationen gewesen. Was der „Oliver Twist"-Autor in einem Brief hinter seiner unleserlichen Kurzschrift verbergen wollte, blieb auch für Linguistinnen und Linguisten 163 Jahre lang ein wohlbehütetes Geheimnis. Ein Computer-Programmierer hat nun den Code geknackt, wie die „New York Times" berichtet. Während der Inhalt zwar weniger pikante Details liefert, als vielleicht erhofft, offenbart er doch neue biografische Details über den Autor.

Entschlüsselt hat den Brief zu einem Großteil Shane Baggs, ein 55-jähriger Programmierer aus Kalifornien. Er hat so viele Symbole aus Dickens' Kurzschrift entziffert, wie kein anderer vor ihm. Anstoß für Baggs außerberufliches Rätselraten war aber nicht etwa ein persönliches Faible für Charles Dickens – der Programmierer gibt an, kein Händchen für Literatur zu haben – sondern ein einfacher Wettbewerb mit 300 britischen Pfund (etwa 350 Euro) als Prämie. Die Universität von Leicester hatte einen Gewinn für die Entschlüsselung ausgeschrieben, den Baggs für sich verzeichnen konnte. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wettbewerbs haben im Vorfeld einen Zoom-Crashkurs zur forensischen Linguistik erhalten. Mit ihrer Hilfe konnte Baggs 70 Prozent des Briefs übersetzen.

Autobiografischer Inhalt mit Charakterstudie

Die Erkenntnis: Der Inhalt scheint vielleicht banaler, als zunächst angenommen, ist aber keineswegs uninteressant. Tatsächlich geht es in Dickens' einseitigem Brief nämlich nicht um Buchideen oder pikante biografische Details, sondern um einen Zwist, den der englische Schriftsteller mit der Londoner Ausgabe der Zeitung „Times“ hatte. Dickens beschwert sich in seinem Brief darüber, dass eine von ihm in Auftrag gegebenen Anzeige für eines seiner neuesten Werke von der Zeitung abgelehnt wurde. Weiter fordert der Autor die Zuständigen erneut auf, seine Anzeige zu publizieren und wählt dabei durchaus harsche Worte. „Ich fühle mich dazu gedrängt, mich persönlich an Sie zu wenden“ ist etwa zu lesen. An anderer Stelle bezeichnet Dickens die Vorgänge als „unrichtig und unfair“.

Es ist anzunehmen, dass es trotz der Unleserlichkeit des Briefs gar nicht Dickens' Intention war, die Inhalte vor neugierigen Augen zu verbergen. Viel wahrscheinlicher ist es, ob der Biografie des Schriftstellers, dass die ungewöhnliche Kurzschrift lediglich der Zeitersparnis dienen sollte. Vor seinem literarischen Durchbruch war Dickens' als Gerichtsreporter tätig gewesen – eine Aufgabe, die schnelles Schreiben in kürzester Zeit erfordert. Während dieser Zeit hat sich Dickens' Stenografie aus rein praktischen Gründen weiterentwickelt, bis daraus eine eigene und für die Außenwelt unleserliche „Geheimschrift“ geworden war. Ebendiese findet unter anderem auch in Dickens' autobiografischem Roman „David Copperfield“ Anwendung.

„Betriebsblindheit“ und neue Perspektiven

Der Schlüssel zur Entzifferung von Dickens' Schrift lag laut Experten in der Zusammenarbeit von Literatur- und Computer-Experten. Die Linguistinnen und Linguisten hätten ein vorgefertigtes Bild von Dickens, das ihre Forschung an der Stenografie begünstigen, aber auch behindern könne. Das Akronym „H.W.“ war für sie jedenfalls aufgrund ihres Vorwissens leicht als Kürzel für „Household Words“ erkennbar – einer britischen Wochenzeitschrift, an der Dickens beteiligt war. Den Programmierern hätte zwar das Vorwissen zu Dickens' Biografie gefehlt, dafür wären sie aber offen für neue Ideen und Ansätze gewesen.

Dem Programmierer Shane Baggs gelang es hingegen etwa, das „@"-Zeichen als Kürzel für Dickens' Literaturzeitschrift „All the Year Round“ zu entziffern und nicht wie bisher angenommen für die landläufige Bedeutung des Klammeraffen. Sechs Monate hat Baggs für die Übersetzung eines Großteils des Briefs gebraucht, an dem Expertinnen und Experten teilweise jahrzehntelang verzweifelt sind. Decodiert hat Baggs lediglich nach der Arbeit – zum Zeitvertreib, wie er sagt.

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