Rechtsstreit

VW droht nach BGH-Urteil eine neue Klagewelle

APA/AFP/INA FASSBENDER
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Sechseinhalb Jahre nach Auffliegen des Abgasskandals öffnet der Deutsche Bundesgerichtshof  die Tür für neue Klagen gegen VW.

Die Richterinnen und Richter des Deutschen Bundesgerichtshofs (BGH) urteilten am Montag, dass betroffene Diesel-Besitzer, die zu spät oder noch gar nicht vor Gericht gezogen sind, trotzdem Anspruch auf finanzielle Entschädigung haben können. Grundvoraussetzung für sogenannten Restschadenersatz ist allerdings, dass das Auto neu gekauft wurde. Bei Gebrauchtwagen kommt er nicht infrage.

Der juristische Hintergrund: Dass Volkswagen wegen der illegalen Abgastechnik des Skandalmotors EA189 grundsätzlich Schadenersatz zahlen muss, hat der BGH längst entschieden. Aber die Ansprüche müssen binnen drei Jahren geltend gemacht werden, sonst verfallen sie. Und Tausende sind zu spät vor Gericht gezogen. Viele andere haben gar nichts unternommen und sind deshalb leer ausgegangen.

Im Mittelpunkt der juristischen Auseinandersetzungen steht deshalb seit geraumer Zeit eine spezielle Vorschrift im Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraf 852. Danach kann es auch nach Eintritt der Verjährung noch Ansprüche geben, wenn "der Ersatzpflichtige durch eine unerlaubte Handlung auf Kosten des Verletzten etwas erlangt" hat. Denn niemand soll daraus Profit schlagen, dass er einem anderen Schaden zugefügt hat - nur weil der nicht rechtzeitig klagt.

Der BGH entschied jetzt zum ersten Mal, dass sich Neuwagen-Käufer im Dieselskandal auf diesen Paragrafen berufen können. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie ihr Auto direkt bei VW oder über einen Händler erworben haben. Gleichzeitig bekräftigten die obersten Zivilrichterinnen und -richter die Urteile eines anderen Senats vom 10. Februar, wonach Gebrauchtwagen-Käufer generell leer ausgehen.

Wie der Restschadenersatz berechnet wird

Unklar war auch, was "etwas erlangt" eigentlich bedeutet - also wie viel VW betroffenen Klägern zahlen muss. Der Wolfsburger Autobauer vertritt die Auffassung, dass damit nur der reine Gewinn gemeint sein kann, die Herstellungskosten für das Auto also berücksichtigt werden müssten.

Das sieht der BGH allerdings anders. Die Richter lassen keine Abzüge zu, denn VW habe sich "böswillig bereichert". Damit läuft die Berechnung wie beim eigentlichen Schadenersatz: VW muss den Kaufpreis größtenteils zurückerstatten; beim Kauf über einen Händler wird nur dessen Gewinnmarge abgezogen. Dafür muss der Kunde sein Auto hergeben und sich die damit zurückgelegten Kilometer anrechnen lassen.

Wie viel Geld jeweils übrig bleibt, haben die Gerichte im Einzelfall zu bestimmen. In den beiden Musterfällen, die sich der BGH ausgesucht hatte, müssen das nun die Oberlandesgerichte in Koblenz und Oldenburg nachholen. Die Richter dort waren der Ansicht gewesen, dass dem Kläger und der Klägerin generell kein Restschadenersatz zusteht, und hatten sich mit den Einzelheiten deshalb nicht näher befasst.

Wer von der Entscheidung profitiert

Laut VW laufen zum Restschadenersatz bei Neuwagen derzeit rund 3.000 Gerichtsverfahren. Darunter sind nach Angaben einer Sprecherin aber auch Konstellationen, auf die sich die beiden BGH-Urteile nicht ohneweiteres übertragen lassen. Dort geht es um Kunden, die ihr Auto als Reimport, Vorführwagen oder mit Tageszulassung erworben haben. Andere Fälle betreffen Dieselautos der VW-Konzernmarken Skoda und Audi, für die Volkswagen ausschließlich den Motor hergestellt hat.

Betroffene können aber auch jetzt noch auf Restschadenersatz klagen. Die Frist dafür beträgt zehn Jahre ab Kauf. Damit kommt eine Klage noch für Diesel-Besitzer infrage, die ihr Auto zwischen Februar 2012 und September 2015 erworben haben. Damals kam der Skandal ans Licht.

Rechtsanwalt Claus Goldenstein, dessen Kanzlei zahlreiche Diesel-Verfahren führt, nennt die Entscheidung deshalb "ungemein wichtig". "VW droht nun eine neue Klagewelle", teilte er mit.

Allerdings sind vom Abgasskandal betroffene Autos inzwischen mindestens sechseinhalb Jahre alt und dürften in vielen Fällen reichlich Kilometer auf dem Tacho haben. Hier kann es passieren, dass der sogenannte Nutzungsersatz, den Klägerinnen und Kläger an VW zahlen müssen, den ursprünglichen Kaufpreis nahezu auffrisst. Dazu kommt die Frage, ob man sich wirklich von seinem Auto trennen möchte.

VW erklärte: "Es kommt auf den Einzelfall an, ob die Geltendmachung eines solchen Anspruchs für Kunden wirtschaftlich überhaupt sinnvoll ist." Die Anspruchshöhe sei "für die in der Regel älteren und intensiv genutzten Fahrzeuge stark beschränkt".

Was Höchstrichter bereits entschieden haben

Laut dem ersten und wichtigsten Urteil des deutschen Bundesgerichtshofs (BGH) zum Dieselskandal haben betroffene Klägerinnen und Kläger Anspruch auf Schadenersatz von VW. Sie können ihr Auto zurückgeben und bekommen ihr Geld wieder. Die gefahrenen Kilometer werden allerdings mit dem Kaufpreis verrechnet. Und jeder Fall ist anders. Diese Spezialfragen sind inzwischen entschieden:

  • - Später Kauf: Wer sein Auto erst nach Auffliegen des Skandals um den Motor EA189 im September 2015 gekauft hat, geht leer aus. Hier ist eine Arglosigkeit, die VW hätte ausnutzen können, nicht mehr gegeben. Für die Konzernmarken Audi, Skoda und Seat gelten dieselben Regeln.
  • - Software-Update: Das verpflichtende Update, mit dem die Betrugssoftware deaktiviert wurde, ist keine neue unzulässige Abschalteinrichtung. Allein deswegen gibt es keinen Schadenersatz.
  • - Vielfahrer: Wenn jemand die geschätzte Laufleistung seines Autos voll ausgeschöpft hat, bleibt vom Schadenersatz nichts übrig. Der finanzielle Schaden ist durch die Nutzung vollständig ausgeglichen.
  • - Keine Deliktzinsen: Erfolgreichen Klägern muss Volkswagen den Kaufpreis nicht noch rückwirkend verzinsen. Die Kunden hätten für ihr Geld ein voll nutzbares Auto bekommen, so der BGH.
  • - Ratenkauf I: Zum Schadenersatz gehören auch Extrakosten für eine Ratenfinanzierung wie Darlehenszinsen. VW muss getäuschte Kunden grundsätzlich so stellen, als ob sie das Auto nie gekauft hätten.
  • - "Kleiner Schadenersatz": Wer sein Auto behalten will, hat Anspruch auf Ausgleich des Minderwerts. Es wird bestimmt, welcher Betrag aus heutiger Sicht beim Kauf zu viel ausgegeben wurde. Dabei sind auch Vor- und Nachteile durch das Software-Update mit einzuberechnen.
  • - Weiterverkauf: Wenn jemand sein Auto weiterverkauft hat, ist der Schadenersatzanspruch nicht entfallen. Der Erlös wird mit den gefahrenen Kilometern vom Kaufpreis abgezogen. Eine sogenannte Wechselprämie vom Autohändler darf man ohne Abzüge behalten.
  • - Verjährung: Die Schadenersatzansprüche verjähren nach drei Jahren. Wer unzweifelhaft 2015 wusste, dass er ein betroffenes Auto hat, und erst 2019 oder später geklagt hat, geht leer aus. Allerdings dürfen Gerichte dies nicht allein wegen der breiten Medienberichterstattung unterstellen. Erst nach 2016 zu prüfen, ob das eigene Auto betroffen ist, war grob fahrlässig. Hier endet die Verjährungsfrist Ende 2019.
  • - Konzernmarken: Klagen gegen den Mutterkonzern VW sind erfolgsversprechender als Klagen gegen eine Tochter wie Audi. Hier braucht es Anhaltspunkte für eine Beteiligung an dem Abgasbetrug. Bei schlüssiger Begründung unterlag Audi im Einzelfall aber auch schon.
  • - Leasing: Wer sein geleastes Auto uneingeschränkt nutzen konnte, bekommt nicht die geleisteten Raten zurück. Das gilt zumindest dann, wenn keine anschließende Übernahme des Autos vereinbart wurde.
  • - Ratenkauf II: Ein verbrieftes Rückgaberecht lässt den Anspruch auf Schadenersatz nicht entfallen. Es eröffnet die Möglichkeit, das Auto mit Fälligkeit der Schlussrate zu einem festen Preis an den Händler zurückzuverkaufen. Davon muss man aber keinen Gebrauch machen.
  • - Restschadenersatz: Darauf kann es nach Eintritt der Verjährung einen Anspruch geben. Bei gebraucht gekauften Dieseln liegen aber die Voraussetzungen nicht vor. Bei Neuwagen ist die Frage noch ungeklärt.

(APA/dpa)

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