"False Flag"

Inszenierte Angriffe: Russlands Propaganda-Videos auf Telegram

Ein ukrainischer Demonstrant vor dem Kiewer TV-Sender NASH, dem russische Propaganda vorgeworfen wird.
Ein ukrainischer Demonstrant vor dem Kiewer TV-Sender NASH, dem russische Propaganda vorgeworfen wird.(c) Imago
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Der Gründer der Investigativplattform „Bellingcat“ hat die Metadaten russischer Staatsfilme von angeblichen ukrainischen Angriffen analysiert. Das Ergebnis: Sie sind gefälscht und das nicht einmal gut.

Es ist eine Szene wie aus einem Albtraum. Ein verwundeter Soldat schreit und krümmt sich vor Schmerz. Sein Bein ist abgetrennt, er steht unter Schock. Seine Kameraden eilen zur Hilfe und tragen ihn weg – fort aus der Kampfzone im Separatistengebiet in der Ostukraine. Kurz bevor das Video zu Ende ist, zieht eine vermeintliche Kleinigkeit die Aufmerksamkeit auf sich. Irgendetwas an der verstümmelten Gliedmaße des Soldaten scheint nicht zu stimmen. Der Oberschenkel ist auffällig steif, fast so als wäre er nicht aus Fleisch und Blut. Videos wie dieses werden aktuell vom russischen Staatsfernsehen massiv verbreitet. Doch was darin zu sehen ist, hat nur wenig mit der Realität zu tun.

Die Videos verfehlen nicht ihren Zweck als Aufmerksamkeitsmagnet: Auf Twitter sorgt das Video für Furore. In den Kommentaren wird wild über die Echtheit des Materials diskutiert. Einige Nutzerinnen und Nutzer sind sich sicher, dass die Bilder das Resultat eines ukrainischen Angriffs auf russische Soldaten seien. Wieder andere meinen, dass das Video aus der russischen Propaganda-Maschinerie stamme und sehen im steifen Bein des Verwundeten einen Beweis für die Fälschung. Man sehe im Video deutlich, dass es sich um eine Prothese handelt, so die Schlussfolgerung vieler Nutzerinnen und Nutzer.

„Blödsinn“ oder False Flag-Operation?

Die Szene um den vermeintlichen russischen Soldaten ist nur einer von vielen Filmen, die das russische Staatsfernsehen aktuell verbreitet. Während sie dort eindeutig als Angriffe der Ukraine betitelt werden, sind sie im Netz Gegenstand hitziger Diskussionen. Nicht zuletzt die vorausgegangene Ankündigung der Vereinigten Staaten hat die Debatte angefacht. Ein hochrangiger Vertreter der US-Regierung hatte Anfang Jänner unter Berufung auf Geheimdienstinformationen angekündigt, dass Russland an Propaganda-Videos arbeite, die ukrainische Angriffe fingieren würden. Die Filme könnten „den Funken liefern, den [Putin] braucht, um Militäreinsätze gegen die Ukraine einzuleiten und zu rechtfertigen“, hieß es. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte die US-amerikanischen Vorwürfe als „Blödsinn“ abgetan.Dass die Vorwürfe alles andere als „Blödsinn“ waren und sich nun bewahrheitet haben, meint hingegen der Investigativjournalist Eliot Higgins. Auf seiner Recherche-Plattform „Bellingcat“ wurde das russische Videomaterial akribisch auf seinen Wahrheitsgehalt untersucht. In einem ausführlichen Thread auf Twitter teilt Higgins die Ergebnisse seiner Recherche. Das Ergebnis überrascht. Higgins spekuliert nicht etwa über die Echtheit von Prothesen, sondern liefert konkrete Anhaltspunkte, dass es sich bei den Videos um sogenannte „False Flags“ handelt – also fingierte Angriffe, die dem Gegner die Schuld in die Schuhe schieben sollen und dem Produzenten wiederum einen Grund zum Angriff geben.

Methoden aus den 1930er-Jahren

Konkret analysiert Higgins ein Video, auf dem eine vermeintliche Sabotage-Aktion ukrainischer Soldaten zu sehen ist. Am 18. Februar wurde das Bildmaterial über einen pro-russischen Telegram-Kanal verbreitet. Ein Blick auf die Metadaten des Videos zeige aber, dass bereits am 4. Februar ein Projekt-Ordner für den Film angelegt wurde und am 8. Februar eine weitere Bearbeitung stattgefunden hat. Auch der Name der Datei gebe weitere Anhaltspunkte auf den Ursprung des Materials. Eine einfache Suche des Kürzels auf YouTube führt zu der Aufnahme einer finnischen Militärübung. Ein Vergleich der Audiospuren der beiden Videos zeige, dass die Tonspuren aus dem finnischen Film für das russische Video übernommen wurden. Die Schüsse finden im exakt selben Abstand statt.

Das finnische YouTube-Video ist mittlerweile über zehn Jahre alt. Die Militärübung hat bereits im April 2010 stattgefunden. Eliot Higgins zeigt sich angesichts der offensichtlichen Manipulation des russischen Videomaterials nicht überrascht. „Russland macht so etwas bereits seit langer Zeit.", meint der Investigativjournalist gegenüber der britischen Tageszeitung „Guardian“. Allerdings überrasche es ihn, dass die Qualität der Propaganda-Filme über die Jahre nicht besser geworden sei.

Dass Russland sich tatsächlich seit „langer Zeit“ ähnlicher Methoden bedient, betont auch das finnische Medium „Helsingin Sanomat“. Abgesehen von den neuen technischen Mitteln, seien die aktuellen Entwicklungen eine „False Flag"-Operation, wie sie von der Sowjetunion bereits im sowjetisch-finnländischen Winterkrieg verwendet wurde. Bereits 1939 hätte Moskau einen Angriff finnischer Truppen fingiert, um einen Grund für den Einmarsch in Finnland zu haben.

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