Junge Forschung

Kenias Politik ohne koloniale Brille

„Die politischen Vorkämpferinnen in Kenia waren mutige Frauen“, sagt Anaïs Angelo. Einige von ihnen hat sie für ihre Forschung bereits getroffen.
„Die politischen Vorkämpferinnen in Kenia waren mutige Frauen“, sagt Anaïs Angelo. Einige von ihnen hat sie für ihre Forschung bereits getroffen. (c) Ákos Burg
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Die Afrikawissenschaftlerin Anaïs Angelo erforscht die Geschichte der präsidialen Macht und die Kämpfe der ersten Politikerinnen im Kenia der 1960er- und 1970er-Jahre.

Im Westen herrsche ein recht klischeehaftes Bild über afrikanische Präsidenten vor, sagt Anaïs Angelo. Demnach seien diese mächtig, geltungssüchtig, brutal und gewalttätig. „Die Sichtweise auf Afrikas führende Politiker ist beeinflusst von kolonialen Stereotypen. Doch das Wissen über die Hintergründe und das Verhandeln präsidialer Macht ist gering.“ Um Antworten auf die Frage, warum in vielen afrikanischen Ländern nach Erlangen ihrer Unabhängigkeit Präsidialsysteme installiert und bestimmte Männer in die höchste Position gehievt wurden, zu finden, müsse man die Elite eines Staates genau studieren. „Und dafür braucht es Freiheit und Archive, also Zugang zu historischen Quellen“, erklärt die Afrikawissenschaftlerin. Beides sei lang nicht gegeben gewesen.

Unterschätzte politische Intelligenz

Ursprünglich wollte Angelo eine Biografie des ersten kenianischen Präsidenten, Jomo Kenyatta, schreiben. „Bei meinen Recherchen wurde mir klar, dass man sowohl in Europa als auch in Kenia selbst sehr wenig darüber weiß, wie und warum er überhaupt an die Macht gekommen war“, erinnert sie sich. Kurzerhand schwenkte Angelo um und widmete ihre Doktorarbeit dem politischen Weg Kenyattas, der in Großbritannien studiert hatte und von 1964 bis zu seinem Tod 1978 erster Staatspräsident Kenias war.

Ihr Fazit: „Die Verhandlungen des Präsidialsystems waren damals sehr chaotisch und die politische Elite tief gespalten, ein Kolonialerbe. Die Rolle des Präsidenten war es, diese Elite zusammenzuhalten.“ Kenyatta, der von den Briten unterstützt wurde, war als Führer im eigenen Land umstrittener, als die Nationalgeschichte das erzählt. Im Wissen um diese komplexe und schwierige Situation wird klar, dass die Position des Präsidenten weniger eine machtvolle als vielmehr eine höchst fragile war. Angelos Erkenntnisse wurden auch als Buch veröffentlicht (Power and the Presidency in Kenya: The Jomo Kenyatta Years, 2020, Cambridge University Press). „Man kann afrikanische Politik viel besser verstehen, wenn man die politische Zerbrechlichkeit und die Dynamik, die dadurch entsteht, besser versteht – und ernst nimmt“, sagt sie. „Es braucht noch viel mehr Forschung über die ersten afrikanischen Präsidenten. Darüber, wie sie Allianzen aufgebaut haben, und über das Vermächtnis, das sie hinterlassen haben.“ Das würde tiefere Einsichten in die politische Situation vieler Länder, über Putschversuche und Unsicherheiten bringen, ist Angelo sicher. Im Westen hätte man die politische Intelligenz ehemaliger afrikanischer Präsidenten selten auf dem Radar – weder damals noch heute.

Nach ihrer Promotion über Jomo Kenyatta 2016 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz landete die gebürtige Französin, die davor Politikwissenschaft in Paris und Michigan (USA) studiert hatte, an der Universität Wien. „Mir ist der internationale Lifestyle geblieben“, meint sie mit Blick auf ihr berufliches und soziales Umfeld in Österreich. Hergeführt hat sie der Zufall, oder, besser gesagt, die Liebe: Ihr Mann, den sie in Florenz kennengelernt hat, ist Wiener. Nach ihrer Promotion folgte Angelo ihm in seine Heimatstadt, wo die beiden mit ihrer dreijährigen Tochter leben.

Aktuell forscht sie am Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien zu Kenias parlamentarischen Pionierinnen der 1960er- und 1970er-Jahre, also vor dem Demokratisierungsprozess Ende des 20. Jahrhunderts. Ab Juli erhält sie dafür ein Elise-Richter-Stipendium vom Wissenschaftsfonds FWF. Angelo will die politische Geschichte mächtiger und teilweise nach wie vor aktiver Frauenorganisationen des ostafrikanischen Landes aufarbeiten – und in Vergessenheit geratene Politikerinnen sichtbar machen. Einige hat sie bereits aufgespürt und getroffen, ein weiterer Forschungsaufenthalt in Kenia mit hoffentlich neuen Begegnungen und Interviews ist geplant.

Ihr Forschungsthema hat auch Angelos privates Interesse an feministischer Globalgeschichte geweckt: „Ich lese viel darüber und versuche, eine Verbindung zwischen akademischer Literatur und Alltag herzustellen. Das hat wichtige neue Konflikte in mein Leben gebracht und es ein bisschen verändert – vor allem als Mutter einer Tochter.“

ZUR PERSON

Anaïs Angelo (34) studierte in Paris Politikwissenschaften und spezialisierte sich an der University of Michigan (USA) auf Afrika-Wissenschaften. 2016 promovierte sie am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz in Geschichte. 2020 erschien ihr Buch über Kenias ersten Präsidenten. Aktuell forscht Angelo an der Universität Wien über kenianische Politikerinnen.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2022)

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