Ein Bild aus der von russischen Angriffen schwer getroffenen nordukrainischen Stadt Tschernihiw.
Reportage

In den Bunkern von Tschernihiw: „Ein Schrapnell traf meinen Sohn"

Die Bewohner der Stadt Tschernihiw erleben täglich russisches Bombardement. Warmes Essen gibt es einmal am Tag - mit Glück. Viele wollen trotzdem bleiben, in den Kellern, in den Ruinen. Ein Bericht aus dem Kriegsgebiet im Norden von Kiew.

Neue, moderne Ferngläser – zehn Kisten davon hat Sergeii im Auto. Er bringt sie zu den Freiwilligeneinheiten nach Tschernihiw. Keine ungefährliche Lieferung, denn die knapp 300.000 Einwohner große Stadt nordöstlich von Kiew steht unter Dauerbeschuss der russischen Armee. Wie gefährlich die Fahrt ist, stellt sich auf der 150 Kilometer langen Strecke heraus. Ein Suchoi-Kampfflugzeug nimmt den Wagen ins Visier, sinkt tiefer und feuert. Zum Glück verfehlt der Pilot sein Ziel. Sergeii lacht nur und drückt aufs Gaspedal. Er will seine Frau Tatjana und seinen Sohn Alexander wiedersehen, die in der Familienwohnung Tschernihiw ausharren. Obwohl russische Artillerie und Flugzeuge ihre Heimatstadt Tag und Nacht unter Dauerbeschuss nehmen. Es ist ein völlig willkürlicher Beschuss, der ständig den Tod von Zivilisten in Kauf nimmt. Schon mehrere Wohnhäuser sind völlig zerstört und 70 seiner Bewohner tot.Eigentlich ist Tschernihiw bekannt für seine wunderschönen Klöster und die älteste Kathedrale der Ukraine. Heute fühlt sich die Stadt an wie die Ausgeburt der Hölle. Dicker, schwarzer Rauch liegt über der Stadt. Das Ölterminal steht nach einem russischen Treffer in Flammen. Krater sind in Straßen und Grünflächen gerissen. Bäume sind gekappt, Steinbrocken, Reste von Autos und Möbeln liegen herum. Sirenen heulen, Schüsse knallen und der wiederkehrende Donner von Explosionen ist allgegenwärtig. Die Bewohner harren verängstigt in ihren Kellern, ohne Wasser, Heizung und Elektrizität im Dunkeln. Seit über einer Woche schlafen sie in ihren Mänteln mit Wollschals um den Kopf auf dem nackten Fußboden nur mit dünnen Decken. Wenn sie Glück haben, bekommen sie einmal am Tag etwas Warmes zu Essen. Freiwillige steigen zu ihnen in den Keller und bringen Suppe. Es sind Zustände, die die Menschen bisher nur aus Erzählungen aus dem 2. Weltkrieg kennen. „Putin ist ein Neonazi“, sagt eine der älteren Frauen. Sie hat viele kleine Wunden übers Gesicht verteilt, die von herumfliegenden Glassplittern stammen. Eine russische Rakete zerstörte das 17-stöckige Wohnhaus über ihnen. Aber zum Glück überlebten alle, weil der Keller der Bombe Stand hielt.

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Diese Frau harrt im Keller ihres Wohnhauses aus.
Diese Frau harrt im Keller ihres Wohnhauses aus.(c) RICARDO GARCIA VILANOVA

„Ein Schrapnell traf meinen Sohn am Kopf"

Andere hatten dagegen weniger Glück. 33 Menschen starben, als das fünfstöckige Haus von Sergeii (namensgleich mit dem oben beschriebenen Fahrer) und Alexander getroffen wurde. „Ich sah mit meinem Sohn gerade aus dem Fenster, als die Rakete einschlug“, erzählt Sergeii. „Überall flogen Glassplitter und ein Schrapnell traf meinen Sohn am Kopf“. Sergeii zog es intuitiv heraus, aber sein zehnjähriger Sohn liegt jetzt mit schwerem Schädeltrauma im Krankenhaus. Seine Frau und die beiden anderen Kinder im Alter von vier und neun Jahren überstanden den russischen Luftschlag unbeschadet. Ihre Wohnung befand sich im letzten Drittel des Gebäudes mit drei separaten Eingängen. Die Bewohner im vorderen Teil, in den die Rakete einschlug, kamen alle ums Leben. „Gebt uns den Piloten, der für den Tod der Menschen verantwortlich ist“, sagt Alexander vor den Überresten seines blauen Wagens. „Wir wissen, was mit ihm zu tun ist“.

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