Kinder & Pandemie

„Man kann immer etwas tun“

Wie wirkt sich die Pandemie auf Kinder und Jugendliche aus? Drei Experten berichten aus dem Alltag, geben Tipps und erklären, welche Rolle Eltern, Gesellschaft und Pubertät dabei spielen.

Marlene ist drei, als der erste Lockdown beginnt – nun, mit fünf, sind Masken und Tests für sie wie Malstifte und Einhörner: ein Teil ihrer Welt. Zweimal war sie im Lockdown mit ihrer Familie, und wirkt dennoch so unbeschwert. Wird das so bleiben? Und: Ist es bedenklich, dass sich ihre 14-jährige Schwester Luisa oft zurückzieht? Lauert hier eine Depression? Wird sie eine von 60.000 Minderjährigen sein, die laut Österr. Bundesverband für Psychotherapie fachkundige Hilfe brauchen? Laut Studie der Donau-Uni Krems Ende 2021 weisen 62 Prozent der Mädchen und 38 Prozent der Burschen eine mittelgradige depressive Symptomatik auf, rund 16 Prozent haben häufiger suizidale Gedanken.

Oder ist das für einen Teenie ganz normal? Fragen, die sich viele Eltern stellen. Klar ist: „Die Pandemie macht etwas mit uns, auch mit den Kindern“, sagt Hannelore Koch, Klinische Psychologin und Co-Gründerin des Lernzentrums Leon in Wien. „Allerdings sind die Auswirkungen von vielen Faktoren abhängig, vor allem den sozialen Ressourcen der Familie und der Resilienz.“

Tun statt leiden

»Weniger Grübeln, mehr gemeinsame Spiel- und Redezeit.«

Was nachweislich an der psychischen Gesundheit nagt, ist das Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Angesichts der Informationen, die verbreitet werden, kann das schnell entstehen. Koch: „Eltern sollten Kindern altersgerechte Infos anbieten, Fehlinformationen aufzeigen und je nach Alter gemeinsam reflektieren.“ Besonders Klein- und Kindergartenkinder brauchen die Sicherheit, dass die Eltern für sie da sind und auf sie aufpassen.

Teenies sind natürlich reflektierter, bekommen viel mehr mit und orientieren sich mehr an Gleichaltrigen. Aber auch hier gehe es darum, zu vermitteln, dass man als Eltern da ist und versteht, dass es Probleme gibt, man sie aber lösen kann. „Auch und gerade, wenn es einem nicht gut geht, ist die beste Zeit, etwas zu tun“, sagt Christoph Pieh vom Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Uni Krems, der mit seinem Team die Homepage istokay.at geschaffen hat. Darauf erklärt er so leicht verständlich die Basics von Depression, Schlafstörung, Stress und Angst, wie man es sonst von Anleitungen für Work-outs oder Gesichtsreinigung kennt, dass man sich fragt, warum Vergleichbares nicht längst als Info des Ministeriums für (psychische) Gesundheit über den Bildschirm flimmert.

„Es ist völlig normal, in einer Krise den Überblick zu verlieren. Aber man kann etwas tun“, sagt Pieh in einem der Videos. „Du bist damit nicht alleine, es liegt nicht an dir.“ Rund 50.000 Zugriffe gab es allein in den ersten sechs Wochen, neben Eltern und Teens kam positives Feedback auch aus der Scientific Community. „Die Unis Ulm und Zürich kommen dazu, in Deutschland und der Schweiz gibt es noch nichts Vergleichbares.“ Mittlerweile wurde die Seite um die Themen Essstörungen, suizidale Gedanken und Suchtverhalten ergänzt.

„Das sind ja alles keine neuen Themen, sie treten nur jetzt verstärkt auf“, weiß Pieh. „Rund ein Drittel der Teenager haben auch ohne Pandemie zumindest eine Episode mit suizidalen Gedanken.“ Dass Jugendliche besonders anfällig für psychische Erkrankungen sind, liegt unter anderem am Umbau des Gehirns, dessen einzelne Bereiche sich nicht synchron, sondern nacheinander entwickeln.

Verlust der eigenen Welt

Deutlich mehr Inanspruchnahme registriert auch Paul Plener, Leiter der Kinder- und Jugendpsy­chiatrie der Universitätsklinik Wien. Der Psychiater sieht vor allem depressive Störungsbilder, Suizidgedanken, Anorexie und Angst im Zunehmen begriffen, vor allem bei jugendlichen Mädchen. Bis zur Pubertät sind in Bezug auf die Depression die Häufigkeiten bei den Geschlechtern gleich, danach teile es sich. „Dabei ist das Thema selten die Pandemie an sich. Jugendliche beschäftigt die eigene Entwicklung, Freunde, Klimawandel und jetzt auch Krieg“, sagt Plener. „Die Pandemie kommt da dazu.“ Und richtet ihr Brennglas auf Kinder und Jugendliche, bei denen Probleme durch die guten Lebensumstände bisher kaum zu bemerken waren. Eine genaue Diagnostik bei sozialen Rückzugstendenzen sei wichtig, etwa auch im autistischen Spektrum. „Da kommen Jugendliche mit depressiven Symptomen zu uns, und es stellt sich heraus, eigentlich tun sich die schwer mit sozialer Interaktion, und das aktuelle Problem ist quasi eine Folge davon.“

Für alle Jugendlichen gelte, dass das Rausgehen in die Welt ein wichtiger Entwicklungsschritt sei. „Und dann ist diese Welt plötzlich geschlossen, durch Lockdowns fehlen Strukturen und Kontakte.“ So sei es kein Wunder, dass auch Jugendliche im wahrsten Sinne des Wortes ihre Welt nicht mehr verstehen, die Kontrolle darüber vermissen. Und sich aus Trauer und Frust über diesen Verlust zurückziehen. Andere versuchen, den Kontrollverlust durch das auszugleichen, was sie kontrollieren können: ihren Körper. Essen, Waschen, Sport können so problematisch werden.

„Wenn ein Kind von sich aus sagt, mir geht es schlecht, sollte man das ernst nehmen“, rät Pieh. Plener ergänzt: „Prozesse des Rückzugs sind bei Teens ganz normal, aber wenn sie das, was immer Spaß gemacht hat, gar nicht mehr tun, auch nicht nach ein, zwei Wochen; wenn sich das Schlafverhalten und der Appetit stark verändert, sind das Anzeichen, dass das Kind leidet.“ Wie man es anspricht? „Mir ist vorgekommen, dass . . . Ist das für dich aus so, oder bilde ich mir das ein?“, wären sinnvolle Vorgehensweisen, sagt Plener.

Basispflege für die Seele

Positiv sei zu bemerken, dass psychische Gesundheit mehr in die öffentliche Wahrnehmung gerückt sei, sagt Plener. „Jugendliche sprechen darüber, gründen sogar Gruppen. Das kannte ich bisher nicht.“ Auch das Wissen um die „seelische Basispflege“ sei gewachsen. „Negative Gesprächsinhalte und Grübeln einschränken, sich gemeinsame Gesprächs- und Spielzeit mit den Kindern nehmen“, rät Koch. „Den Alltag mit positiven Dingen anreichern, Tag/Nachtrhythmus und Bettzeiten beachten, sich draußen bewegen und (angenehme) Leute treffen, zur Not auch virtuell“, sagt Pieh. „Konzentration auf das Positive, sich fragen: Was hat gut geklappt? Was habe ich dazu beigetragen, dass es so ist? Was kann ich also auch weiterhin tun, damit etwas gut klappt?“, so die Tipps von Pieh. Koch rät, bei Unsicherheiten eine Elternberatung aufzusuchen, Hilfe anzunehmen, sich auszutauschen. Vielen Eltern sei in den letzten Jahren viel abverlangt worden. Es sei wichtig zu erkennen, dass sie das Recht und – zum Wohl ihrer Kinder – auch die Aufgabe haben, auf ihre eigene psychische Gesundheit zu achten, um ihren Kindern ein Vorbild zu sein. Politik und Gesellschaft seien gefragt, gezielte und sinnvolle Maßnahmen für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen umzusetzen. „Das wird maßgeblich die Folgen der Pandemie beeinflussen“, sagt Koch.

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