Interview

Charles Taylor: "Das kann unsere Demokratien töten"

Clemens Fabry
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Der berühmte kanadische Philosoph und IWM-Fellow sprach mit der „Presse“ über „schreckliche“ weltweite Tendenzen.

Zwei Jahre lang hat die Pandemie den Sozialphilosophen Charles Taylor von Wien ferngehalten, wo er seit vielen Jahren als Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) tätig ist. „Die Presse“ traf den 90-Jährigen bei seinem ersten Wien-Besuch seit Pandemiebeginn, bei dem er ein neues Buch im Gepäck hatte: „Degenerations of Democracy“.


Hätten Sie damit gerechnet, dass Sie noch einmal Krieg in Europa erleben würden?

Nein, ich bin schwer erschüttert, aber wir sind vielleicht zu eurozentrisch. Sehen wir in andere Weltteile, etwa nach China und Taiwan . . . Dennoch denke ich, dieser Krieg ist nicht Teil einer grundsätzlichen Tendenz. Es gibt aber zwei solche Tendenzen, die mich sehr beunruhigen: die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die Xenophobie.


Weltweit, meinen Sie?

Ja. Ich verstehe ein bisschen die Tendenzen im Westen, aber es passiert nicht nur dort. Man sieht die Xenophobie zum Beispiel in Indien, wohin ich seit Jahrzehnten immer wieder reise. Dort herrschte lang die Vision von Gandhi und Nehru, jetzt genau das Gegenteil. Das hat nichts mehr mit der indischen Tradition der Öffnung gegenüber anderen Spiritualitäten zu tun. Da hat sich etwas noch Engeres breitgemacht als im Westen. Diese weltweite Tendenz lässt sich schwer erklären, ich sehe nicht die Verbindungen, nur das gleichzeitige Auftreten von etwas Schrecklichem, das unsere Demokratien töten kann.


In Ihrem neuen Buch „Degenerations of Democracy“, das Sie mit zwei Kollegen geschrieben haben, denken Sie aber sehr wohl über die Gründe nach.

Klar ist, dass wachsende Ungleichheit eine große Rolle spielt. Die Menschen, die an die imaginären Lösungen der Populisten glauben, haben gravierende Probleme. Zum Beispiel, dass die Arbeiterklasse verschwindet und in weniger wichtigen Regionen die Infrastruktur verloren geht.


Sie werden gern „Philosoph des Multikulturalismus“ genannt. Was kann Europa aus der langen kanadischen Erfahrung mit Massenmigration lernen?

Dass man langfristig keine fundamentalistische Gesellschaft zu fürchten braucht. Dass die Furcht „Werden sie uns verändern? Werde ich meine Gesellschaft nicht mehr wiedererkennen?“ unbegründet ist. Man braucht etwas Geduld, und man darf nicht provozieren. Frankreich ist komplizierter, ein großer Teil der Immigranten stammt aus den ehemaligen Kolonien. Aber in Österreich ist das nicht der Fall.


Seit den 1980er-Jahren haben Sie die Idee des autonomen Individuums als Fehldeutung der Aufklärung kritisiert. Sehen Sie den Individualismus heute im Rückgang, zugunsten neuer Formen des Gruppendenkens?

Ja und nein. Es gibt neue Bewegungen, die viele zusammenbringen. Auf der anderen Seite ist aber in sehr vielen Gesellschaften, vielleicht besonders in den angelsächsischen Ländern, die Ideologie der Meritokratie sehr stark. Sie baut auf der Illusion auf, dass man von allein seinen Weg macht. Das tut niemand. Aber viele Leute weisen das Konzept der Solidarität zurück, und das schadet der Gesellschaft sehr.

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