Zeitreise

Heute vor 100 Jahren: War Schillers Vater ein Alkoholiker?

Wenn im Nationalrat das Privatleben eines Schriftstellers besprochen wird.

Neue Freie Presse am 8. Mai 1924

Friedrich Schiller mußte gestern im Nationalrat als Eideshelfer für den Mutterschaftszwang herhalten. Die Frauen sollen auch fernerhin Gebärmaschinen bleiben und Kinder, deren Dasein auf einen brutalen Vergewaltigungsakt etwa zurückzuführen ist, Kinder ferner von Wahnsinnigen und von Syphilitikern müssen zur Welt kommen, weil der Vater Friedrich Schillers angeblich ein Alkoholiker gewesen sein soll.

„Ein Alkoholiker höchsten Grades“, meinte der Abgeordnete Jerzabek, der sonst genealogische Studien höchstens in jenen Fällen betreibt, wo es ihm darauf ankommt, einen sogenannten Judenstämmling schonungslos zu entlarven. Einer der Redner von der Gegenseite trat Herrn Jerzabek mit gebotener Vorsicht entgegen. Die Ehrenrettung Schillers Seniors hörte sich allerdings einigermaßen reserviert an. Es mag richtig sein, daß Schillers Vater viel getrunken hat, meine dieser Grosso-Verteidiger, aber es geht demnach nicht an, ihn geradezu als Trunkenbold hinzustellen.

Begütigend fügte der Redner hinzu, Vater Schiller sei alles in allem genommen, ein Mann von ungewöhnlich hohen Fähigkeiten gewesen. So ist denn der wackere Leutnant, Feldscher und Werbeoffizier Kaspar Schiller im österreichischen Nationalrat mit einem blauen Auge davon gekommen. Eigentlich ist es aber gar nicht schön von dem christlichsozialen Abgeordneten Jerzabek, sich mit solcher Rücksichtslosigkeit in das Privatleben des alten Herren einzumischen.

Vater Schiller war ein ungemein frommer und religiöser Mann, der während seiner Kriegsdienste oft und oft den Feldgeistlichen supplierte und sogar eine Anzahl von Gebeten in Prosa und in Versen verfaßt hat.

Wahrscheinlich waren es seine soldatischen Abenteuer und seine Kriegsdienste, die in verleiteten, tiefer ins Glas zu schauen, als es wünschenswert gewesen wäre. Aus seinen Briefen an den großen Sohn jedoch, der selbst in seinen kraftgenialischen Jahren kein Kostverächter gewesen ist und bei Gelagen mit befreundeten Offizieren manchmal sogar unter den Tisch getrunken worden sein soll, spricht alles eher denn der Leichtsinn und die göttliche Sorglosigkeit des Trinkers.

Keinesfalls aber wird man Herrn Dr. Jerzabek unbedingt zustimmen können, wenn er Friedrich Schiller selbst gegen die moderne Auffassung vom Rechte der Frau auf Selbstbestimmung ausspielt. Angenommen, aber nicht zugegeben, daß Schillers Vater wirklich ein Alkoholiker gewesen sei, so würde daraus auf keinen Fall geschlossen werden können, daß es für die Volkswohlfahrt besonders zuträglich wäre, wenn Alkoholiker, Syphiliker und Wahnsinnige möglichst viele Kinder in die Welt setzen. Der gewissenhafte Arzt, der dem von einer unheilbaren krankgeit Heimgesuchten das Gegenteil des Bibelwortes: „Seid fruchtbar und mehret euch!“ zur Pflicht macht, wird sich kaum durch den Hinweis auf Friedrich Schiller und seinen Vater irre machen lassen.

Österreich darf sich nicht ausruhen

Die wirtschaftlichen Zeiten sind zu schwierig, um eine Atempause zu gestatten.

Neue Freie Presse am 7. Mai 1934

Das Wort, daß nach getaner Arbeit gut ruhen sei, darf gegenwärtig in Österreich keineswegs buchstäblich genommen werden. Wohl ist in der letzten Zeit viel geleistet worden. Doch die Arbeit, die hinter uns liegt, verpflichtet zu weiterer ernster Tätigkeit. Die Zeiten sind zu schwierig, um eine Atempause zu gestatten, ein selbstzufriedenes Verweilen bei dem Vollbrachten.

Es gilt vielmehr, sogleich an die Fortsetzung der bisherigen Wirksamkeit zu denken und aus den Ergebnissen der jüngsten Vergangenheit die trostreiche Zuversicht zu ziehen, daß dem Mutigen, dem Unternehmungslustigen selbst heute der Erfolg winkt, mag ihm auch nicht mehr die Welt gehören. Eines steht fest: Neben dem verfassungsrechtlichen und politischen Werk dürfen die Bemühungen um die Befruchtung, Stärkung und Unterstützung der Wirtschaft nicht zu kurz kommen.

Durch die Bankenfusion wurde der finanzielle Apparat umgestellt. Aus seiner Zusammenfassung ergibt sich leider die harte Notwendigkeit, den Beamtenkörper den geänderten Verhältnissen anzupassen. Allein dieses schwierige Problem kann nur dann richtig gelöst werden, wenn man den menschlichen Empfindungen gebührend Raum gewährt und wenn man bei der Aktion auf die Interessen der Gesamtheit Bedacht nimmt. Jede vermeidbare Verringerung der Konsumationskraft der Bevölkerung soll eben behutsam hintangehalten bleiben.

Eine schonungsvolle und verständnisvolle Behandlung erheischt auch die Zusammenlegung von Industriebetrieben, mit der man sich in der nächsten Zukunft prinzipiell und praktisch befassen wird. Jeder Mißgriff, jede Übereilung würde sich hier bitter rächen, denn es ist leicht, niederzureißen, aber schwer, aufzurichten. Als Hauptaufgabe muß jedoch die positive Förderung, die Belebung der Wirtschaft durch neue Impulse angesehen werden.

Ein Skandal weniger

Kleine und große Unsäglichkeiten sprießen derzeit aus dem Boden.

Neue Freie Presse am 6. Mai 1924

Ein Skandal ist aus der Welt geschafft worden. Oder wird wenigstens, wenn nicht alle Anzeichen trügen, in naher Frist von der Bildfläche der öffentlichen Diskussion verschwinden. Das ist immerhin bemerkenswert, in einer Zeit, da die Skandale, die gigantischen Riesenskandale und die kleinen niedlichen Skandälchen mit einer Ueppigkeit aus dem Boden schießen, wie die Pilze eines solche im feuchten Sommer nicht aufzuweisen haben. Wir meinen den Seeschlangenprozeß, den der ehemalige Theaterdirektor Amann seit Jahr und Tag gegen das Aerar zu führen genötigt ist, weil sogar ein Vierundachzigjähriger, mag er auch seine Ansprüche an das Leben ein auf ein Minimum beschränkt haben, mit 10.000 K. jährlich sein Auskommen nicht zu finden vermag.

Der Theaterdirektor hatte ein ihm gehöriges Heilbad einer Stiftung gewidmet, die für Militärwitwen und Militärwaisen bestimmt gewesen ist. Eine schöne Geste, die dadurch nicht beeinträchtigt wurde, daß der brave Mann, wenn auch dem Sprichwort getreu, zuletzt an sich nicht vollkommen vergaß und bis zu seinem und seiner Gattin Lebensende eine Jahresrente von 10.000 K. sich vorbehalten hatte. Ach ja! Es gab so eine Zeit, wo man zu sorgen aufgehört hatte, wenn man die stolze Gewißheit besaß, jahraus jahrein 10.000 K. einstreichen zu dürfen. So dachte auch der Herr Amann und er mag sich seinen Lebensabend wundernett vorgestellt haben. Da kam der Weltkrieg, der durch so viele Rechnungen hindurch blutige Striche machte.

(…) Er, der gespendet und aus vollen Händen gegeben hatte, sah sich über Nacht in die Rolle des läßtigen Bittsteller, des ohnmächtigen Bettlers verwiesen. Das Aerar war allerdings nicht kontraktbrüchig geworden. Gott behüte! Es zahlte vereinbarungsgemäß 10.000 K. Jahresrente und es zuckte überlegen die amtlichen Achseln bei dem Vorhalt, daß es genau genommen doch nicht mehr ganz dieselbe Rente sei. 10.000 K. Jahresrente, das ist heutzutage nicht nur zum Leben, sondern sogar zum Sterben zu wenig. Aber darüber ließ man sich hieramts, wie gesagt, keine grauen Haare wachsen.(...) Erst sehr spät scheint man auf den naheliegenden Gedanken gekommen zu sein, daß ein Ausgleich mit dem 84jährigen Greis den Staat aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ruinieren dürfte, daß das ganze Vorgehen gegen Herrn Amann alles genannt werden könne, nur nicht nobel. Dieser Mann hat denn doch verdient, mit einem anderen Maß gemessen zu werden, als seine Schicksalsgenossen, als alle jene, deren Ideal die Valorisierung ist. Die Republik Oesterreich, die sich sonst von den Sentimentalitäten des Festhaltens an Traditionen ganz gut verstand, hat überflüssigerweise bei dieser Gelegenheit ein Wort aus der Francesco-Josefinischen Zeit sich zu eigen gemacht, das Wort des Fürsten Schwarzenberg: Die Welt wird staunen, wie undankbar wir sein können!

Notruf der Frauen in Südtirol

Die deutsche Sprache soll in den Volksschulen erhalten bleiben.

Neue Freie Presse am 5. Mai 1924

Wie gemeldet, hat eine Abordnung deutscher Frauen dem italienischen Kronprinzen bei dessen Besuch in Bozen eine Schrift überreicht, in der sie ihn baten, für die Erhaltung der deutschen Unterrichtssprache in den Volksschulen ein einzutreten. In der Bittschrift heißt es:

„Die Verdrängung der deutschen Sprache aus den Schulen des Alto Adige bereitet uns Frauen so viel Sorge und Kummer, daß wir auch heute vor Eurer königlichen Hoheit wiederum die dringliche Bitte vorbringen müssen, uns das Heiligte, was ein Volk besitzt, seine Muttersprache, ungeschmälert zu belassen und sohin den Volksschulunterricht in der Muttersprache wieder herzustellen.

Eure königliche Hoheit der erlauchte Sproß eines alten Königsgeschlechtes, wird es gewiß als Pflicht der Menschlichkeit und des Edelsinnes empfinden, ein kleines, anderssprachiges, in die Grenzen Italiens ein eingeschlossenes Volk nicht unterdrücken zu lassen.

Ihr Wunsch kann es nur sein, daß alle Bewohner des Staates sich in demselben wohl fühlen und sich gegenseitig nähern, und gewiß würde nichts mehr dazu beitragen, die bei den Nationen zu gemeinschaftlicher Arbeit für das Wohl des ganzen Landes zu vereinigen, als die Gewißheit, daß es auch uns Deutschen möglich gemacht wird, unseren Kindern in erster Linie die Kenntnis der Muttersprache voll zu erhalten; wenn wir dessen sicher wären, würden unsere Kinder mit ganz anderem Eifer auch der Erlernung der italienischen Sprache sich widmen können.“

Mussolini und Machiavelli 

Der Italiener will an der Universität promovieren.

Neue Freie Presse am 4. Mai 1924

Mussolini soll am 15. Juni zum Doktor der Universität Bologna, promoviert werden und hat der Universität eine Dissertation über Macchiavelli vorgelegt. Die Einleitung zu, dieser Dissertation wird jetzt von der faschistischen Zeitschrift “Gerarchia” veröffentlicht. 

Mussolini untersucht die Frage, welcher lebendige Gehalt nach vier Jahrhunderten von Macchiavesllis “Principe” noch enthalten sei. Nach seiner Ansicht sei die Lehre  Macchiavellis heute noch viel lebendiger als in der Vergangenheit. Interessant ist, wie Mussolini unter Beziehung auf die von Machiavelli im “Principe” geäußerten Ansichten die menschliche Natur beurteilt.

Mussolini sagt: “Schon bei einer oberflächlichen Lektüre des ‘Principe’ tritt deutlich der scharfe Pessimismus Macchiavellis hinsichtlich der menschlichen Natur hervor. Wie alle jene, welche in fortwährendem Verkehr mit ihren Nebenmenschen gestanden haben, ist Macchiavelli ein Verächter der Menschen und liebt es, sie in ihrer negativsten Gestalt darzustellen. Die Menschen sind nach Macchiavelli mehr den Dingen als ihrem eigenen Blute zugetan und bereit, Gefühle und Leidenschaftenzu ändern. Viel Zeit ist seither vergangen, aber wenn es mir erlaubt wäre, meine Zeitgenossen zu beurteilen, könnte ich in keiner Weise das Urteil Macchiavellis mildern, sondern müßte es noch verschärfen.”

An die Stelle des Wortes “Principe” müße man heute die Bezeichnung “Staat” setzen. Während die Individuen von ihrem Egoismus getrieben, dem sozialen Aktionismus zustreben, stelle der Staat eine Organisation und eine Begrenzung dar. Das Individuum strebe unaufhörlich danach, sich seinen Verpflichtungen zu entziehen, den Gesetzen nicht zu gehorchen, keine Steuern zu zahlen und keine Kriege zu führen.

Mussolini wendet sich hierauf im Sinne seiner bekannten Anschauungen gegen die Volkssouveränität, die er als einen tragischen Spaß bezeichnet, und erörtert dann die Anschauungen Macchiavellis über die Demokratie.

Die japanische Kaiserin kommt zu Besuch

Wer hätte sich gedacht, dass eine Herrscherin zu einem Kranken kommen würde?

Neue Freie Presse am 3. Mai 1924

Aus Jokohama wird uns geschrieben: In Numadfu war‘s. Einem kleinen Städtchen am Flusse Kannongawa. Im April, wenn in Nippon die Kirsche blüht. Die Aufregung auf der alten Tokaido, der Heerstraße, an der Numadfu liegt, war nicht zu verkennen. Ein Hasten und Laufen, Polizisten, die Befehle erteilten, Frauen, die die Straßen sprengten, Schulkinder, die sich zu beiden Seiten ins Spalier stellten. „Was gibt‘s? Wem gelten die Vorbereitungen?“ „Kogo hcka!“ Ihrer kaiserlichen Majestät. So hieß sie im Volke. 

Wie alle ihre Vorgängerinnen seit dreihalbtausend Jahren. Nie wurde ihr Name genannt. Kaum wußte man, daß sie Haruko - der Frühling -hieß. Am Ende des Städtchens Numadsu wohnte ein japanischer Aristokrat; er lag damals am Fieber danieder. Und die Kaiserin hatte ihm ihren Besuch zugesagt. Mit Fahnen und violetten Vorhängen - violett ist die Farbe des Kaiserhauses - war die Wohnung des kranken Barons dekoriert. Vor dem Eingangstor hatte ein Schintopriester Ausstellung genommen, in gelbseidener Robe, das Holz­szepter in der Hand. Um ihn herum die Schulmädchen in lila und bordeauroten Kimonos, ein glänzendes, orien­talisches Bild. Ein Reiter, in Gehrock und Zylinder, kommt die Straße herabgesprengt. Ihm folgt, in weitem Abstand, die goldrote Hofequipage. 

Einfach, schlicht, keine Spur von asiatischem Prunk. Drei Damen steigen aus, stellen sich rechts und links vom Wagenschlag auf. Dann eine Sekunde der Erwartung - und die Kaiserin entsteigt dem Innern der Equipage. In europäischem Kostüm: meergrünes Reise­kleid, kleiner Hut, schwarzer Schleier. Langsam, sicher, nicht ohne Grazie bewegt sie sich durch das Spalier der sich tief neigenden Hofdamen.... Das also ist sie, die Gattin Mutsuhitos, die dem um zwei Jahre jüngeren Herrscher als achtzehnjähriges Mädchen angetraut worden war. Wie hat sich doch alles von Grund ans geändert seit dem Tage, da, die Wahl des Hofes auf sie als zukünftige Kaiserin fiel.

Damals war Japan noch ein feudaler Stadt. Die Zweischwert­männer herrschten noch im Lande und mehr als einmal hallten die weiten Säle des friedlichen Palastes in Kyoto vom klirrenden Schritt der Samurai, von Schwertarklang und Kriegsruf wider. Wilde Tage waren das, die dem endgültigen Sturze des allmächtigen Schoguns vorangingen! Schon sprachen zwar alle Zeichen dafür, daß der Sieg sich auf die kaiserliche Seite neigen werde. Daß der Mikado wieder eingesetzt werden würde in seine Herrscherrechte, die er, vor sieben Jahrhunderten, an die Adelsfamilie der Minamoto verloren hatte. Und doch, wer der jungen Haruko damals prophezeit hätte, daß sie eines Tages in schlichter Equipage in das Haus eines kranken Barons fahren würde, er wäre wohl für geistig nicht normal gehalten worden. Denn allgemein glaubte man damals, der Sturz des Schoguns würde die Wiederherstellung jener Zustände im Gefolge haben, wie sie vor dem Zwölften Jahrhundert gegolten hatten: ein zentra­lisierter Beamtenstaat, abgeschlossen gegen die Außenwelt, mit dem Mikado als alleinigem, aber dem Volke zeitlebens un­sichtbarem Herrscher, dessen bloßer Anblick sterbliche Augen er­blinden läßt.

Es kam anders, ganz anders. Die klugen Männer, die an der Spitze der Bewegung von 1867 standen, wußten mit den Institutionen des zwölften Jahrhunderts nichts anzufangen. Allzu laut, allzu ungestüm pochten Europa und Amerika an Nippons verschlossene Torei, verlangten Einlaß, drohten mit Gewalt. Die Zeit des Abschlusses, des Dornröschenschlafes war unwiederbringlich dahin. Mit dem Strome schwimmen, hieß es, oder in seinen Wellen unter­gehen. Und die Führer der Nation wählten das erstere. Auch sie, die Kaiserin aus dem Hause Fudschiwara, wurde mit Hinsingerissen in den Wirbel. Als der Mikado, unter dem starren Staunen seines Volkes, das tausendjährige Kyoto, die heilige Kaiserstadt, verließ und nach Norden zog, nach Tokio. Und als mit zunehmender Europäisierung Japans eine Mauer um die andere fiel, die zwischen Herrscher und Volk gestanden hatte, da trat auch die Kogo aus dem heiligen Dämmer der Abgeschlossenheit heraus ins helle Tageslicht der Öffentlichkeit. Mit natürlicher, ruhiger Grazie. Als wäre sie von Jugend auf dazu erzogen worden, vor allem Volke zu repräsentieren.

Die Schlafkrankheitsepidemie in England

In der Hauptsache sind junge Menschen zwischen zehn und zwanzig Jahren betroffen.

Neue Freie Presse am 2. Mai 1924

Das rapide Umsichgreifen der Encephalitis lethargia in England erregt im Lande größte Beunruhigung. Die Seuche erfaßt Personen jeden Alters. In der Hauptsache aber sind junge Menschen zwischen zehn und zwanzig Jahren betroffen.

Wie berichtet, sind in den ersten Wochen April 649 neue Fälle beobachtet worden. Das erhebt die Zahl der in diesem Jahre Erkrankten auf 1409, fast dreimal so viel als im Jahre 1922. Der Prozentsatz der Todesfälle ist leider sehr hoch. Er bewegt sich zwischen 25 und 50 Prozent. Von den in den ersten drei Wochen des Monates April erkrankten 649 Personen befürchtet man bei mäßiger Schätzung 160 Todesfälle, die doppelte Zahl dürfte auf lange Jahre oder gar für ihr Leben dauernden Schaden an Geist und Körper erleiden und nur ein Viertel der Opfer der Wiederherstellung zugeführt werden können.

Das Varieté auf dem Ozean

Auf hoher See kann es äußert langweilig werden. Das soll sich jetzt ändern.

Neue Freie Presse am 1. Mai 1914 

Die modernen Ozeanriesen, die den Verkehr zwischen den deutschen, franzö­sischen oder englischen Häfen und Newyork vermitteln, haben längst das Außerordentlichste ersonnen, um die sechs- bis acht­tägige Reise angenehm, abwechslungsreich und amüsant zu ge­stalten. Schwimmbäder, Schiffsorchester, Feste unter Mitwirkung der Passagiere, unter denen es ja nie an großen Künstlern fehlt, fürstlich eingerichtete Salons, Spielzimmer und vor allem die Diners und Soupers mit ihren zehn und mehr Gängen sorgen dafür, daß die Fahrt recht rasch vergeht.

Und doch gibt es inmitten all dieses Luxus Stunden voll tödlicher Langweile.

Stunden, in denen man an nichts denkt als an die Meilenzahl, die man noch zurückzulegen hat, und besonders für die, die gewöhnt find, spät schlafen zu gehen, kann der Abend auf hoher See, wenn das Wetter den Aufenthalt auf Deck nicht erlaubt, alles eher als kurzweilig werden.

Nun geht die Cunardlinie daran, mich dem abzuhelfen. Ihr neuer Riesendampfer „Aquitania“, der am 29. Mai seine Jungfern­reise vom Liverpool nach Newyork antritt, wird, wie die Londoner Blätter erzählen, ein vollständiges Varieté mit­ nehmen. Im Hauptsalon ist eine reguläre Bühne errichtet worden und eine halbe Stunde nach dem Souper wird dort eine Varietévorstellung beginnen, der auf bequemen Klubfauteuils 800 bis 1000 Personen bis Mitternacht beiwohnen können. Die Gesellschaft ist schon zusammengestellt: Frank Allen ist ihr Direktor, und sie enthält weltberühmte Artisten, wie George Robey, Barclay Gammon, die „Tiller-Girls“ usw. 

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