Schon die Sowjetgeschichte zeigt, wie Europareisen zum Motor der Regimekritik wurden: Man nehme das „russische Leben“ des Physikers Orlow.
Was, zum Teufel, war mein Land für ein Land?“ Diese Frage stellt sich in der Autobiografie „Ein russisches Leben“ des Atomphysikers und Dissidenten Jurij Orlow sein 21-jähriges Ich, gerade aus dem Zweiten Weltkrieg gekommen. In den Nachkriegsmonaten ist er als russischer Offizier in der Tschechoslowakei, dann in Ungarn stationiert. „Es war bitter zu sehen, wie sehr sich dieser florierende Hof von unseren bemitleidenswerten Kollektiven unterschied“, schreibt Orlow über einen Bauernhof bei Prag. Nahe der ungarischen Stadt Pécs taucht dann in der Offiziersmesse „auf wundersame Weise eine Ausgabe der Britanskj Sojusnik“ auf. Darin finden sich zwei Artikel von in den USA lebenden Wissenschaftlern, die über ihre Emigration aus der UdSSR schreiben (und von Haft und Tod sowjetischer Kollegen). Und da fragt sich der junge Orlow: „Was, zum Teufel, war mein Land für ein Land?“
1986 wurde Orlow nach langer Lagerhaft in die USA entlassen, 2020 starb er dort im Alter von 96 Jahren. Wäre er der Bürgerrechtskämpfer geworden, ganz ohne seine Auslandsaufenthalte als junger Mann? Darüber lässt sich natürlich nur spekulieren. Er selbst beobachtete die Wirkung jedenfalls an den „in ihre Heimat zurückgekehrten Feldwebeln und Offizieren“, die nun „nachdenklicher wurden.“ Und sich zumindest in der ersten Zeit nach ihrer Heimkehr äußerst offen und kritisch über das Sowjetsystem austauschten.