Jüngere Autorinnen und Autoren wie Virginie Despentes oder Edouard Louis beten sie an: Annie Ernaux gilt heute als wichtige Vorläuferin sozialkritischer Autofiktion.
Frankreich

Literaturnobelpreis für Annie Ernaux: Sie gibt der sozialen Scham eine Stimme

Der Preis für die 81-jährige Französin ist Höhepunkt einer globalen Welle. Über eine Autorin, die das Autobiografische schonungs- und schnörkellos neu definierte – und für viele Junge Vorbild ist.

Mein Vater wollte an einem Sonntag im Juni, am frühen Nachmittag meine Mutter töten“: So beginnt Annie Ernaux' Buch „Die Scham“. Dieser Vater war ihr Vater, diese Mutter ihre Mutter. Jahrzehnte nach dem Nachmittag, als ihr Vater alkoholisiert auf ihre Mutter losgegangen war, veröffentlichte Ernaux 1997 ihr Buch darüber, ihr achtes, seitdem sie in den frühen 1970er-Jahren in Paris zu schreiben angefangen hatte: immer über ihr Leben, und doch im Grunde nie über sich selbst.

Der autobiografische Roman zelebrierte traditionell das aus der Gesellschaft herausgehobene Individuum. Annie Ernaux nahm sich zwar Aspekte ihrer eigenen Lebensgeschichte vor – auch gesellschaftlich schockierende –, suchte ihnen aber im Gegenteil das Individuelle zu nehmen. Ob es um ihre kleinbürgerliche Kindheit in der Normandie und ihre Milieuflucht ging, um teils lebensgefährliche Abtreibungsversuche als Studentin, um beschämende sexuelle Erlebnisse als Jugendliche oder um die Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter: Selbst in der intimsten Erfahrung suchte sie die kollektive, sozial geformte. Sie ging zu ihrem Ich auf analytische Distanz, schrieb fast immer „sie“. Außergewöhnlich auch die Offenheit, mit der sie Körperliches zur Sprache brachte. Dazu kam die Kompromisslosigkeit, mit der sie kühl und lakonisch nach dem exakten Ausdruck suchte, um Leben in Literatur zu verwandeln. Ernaux' Werk ist schonungs- und schnörkellos.

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