Morgenglosse

Das ramponierte Erbe der Türkisen

Die stilschwache Seifenoper in der Chat-Affäre überstrahlt das inhaltliche Vermächtnis einer Kanzlerschaft - dabei wäre das auch so schon ziemlich dünn.

Für eine semipolitische Vorabendserie wäre die jüngste Wendung der ÖVP-Affäre fast schon zu steil gewesen: Nachdem die Zuschauer unlängst erfuhren, wie der Ex-Kanzler Gespräche mit zum Gegenspieler gewordenen Vertrauten heimlich aufgezeichnet hatte, tauchte nun also mit Stefan Petzner auch noch ein Protagonist vergangener Politkrimi-Staffeln auf, um den – wie auch immer beschafften – Mitschnitt des Gesprächs zu veröffentlichen.

Ein Ende dieser seltsamen Seifenoper ist nicht in Sicht. Und nahezu jede Sequenz fügte der Kanzlerschaft des Sebastian Kurz zuletzt erheblichen Schaden zu. Denn was bleibt am Ende von einer Regierung, wenn man ihr Bild um all die tagespolitischen Flickwerkstücke, Schlagzeilen und Umfragezwischenstände bereinigt? Nehmen wir das Beispiel Wolfgang Schüssel: Da gibt es eben nicht nur die Eurofighter-Skandale und die Grasser-Affären, sondern auch substanzielle Eingriffe ins Systemische von einer Tragweite, wie sie später nicht mehr oft gesehen war, die Pensionsreform zum Beispiel. Aus einer quasi-utilitaristischen Sichtweise könnte man jetzt argumentieren: Je besser das Endergebnis, desto größer die Akzeptanz, über erschütternde Stilistik mancher Protagonisten hinwegzusehen. 

Die türkise Zwischenabrechnung bis Ende 2021, und mag sie noch so stark beeinflusst durch Ibiza-Skandal und Coronakrise sein, fällt anders aus. Allerhand „Leuchttürme“, von der Sozialhilfereform bis zum Kopftuchverbot, wurden höchstgerichtlich gekippt, Asylprobleme vermochte man sichtlich kaum zu lösen, über Pensionsreformen redete man gleich gar nicht, die große Pflegereform blieb eine Ankündigung; also stehen da eine zuvorderst auf Funktionärsebene angesiedelte Kassenfusion ohne die versprochene „Patientenmilliarde“ und der Familienbonus. Erst letzte Woche trudelte wieder die Bilanz eines vermeintlichen Großprojekts ein, und zwar des „Standortentwicklungsgesetzes“: Dieser einst monatelang diskutierte türkis-blaue Wirtschaftsturbo, von dem sich die Regierung „Arbeitsplätze und Wohlstand“ versprochen hatte, kam in den ersten drei Jahren seines Bestehens nicht ein einziges Mal zur Anwendung. Kurzum: Aus der überdurchschnittlich großen Macht, die man über Jahre innehatte, wurde verhältnismäßig wenig gemacht, das letztlich in Erinnerung bleibt. Dieses magere inhaltliche Erbe mag weniger unterhaltsam sein als die bisherigen und die kommenden Staffeln der Schmid-Seifenoper – ist aber vermutlich noch ernüchternder.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.