Interview

Ihre Waffe war der Hunger

Viele Überlebende des Holodomor haben Angst, dass sich das Grauen wiederholt: Maria Goncharova vor ihrem Häuschen in der besetzten Ukraine.
Viele Überlebende des Holodomor haben Angst, dass sich das Grauen wiederholt: Maria Goncharova vor ihrem Häuschen in der besetzten Ukraine. SERGEY BOBOK / AFP / picturedesk
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In den 1930er-Jahren befahl Stalin die Zwangskollektivierung ukrainischer Betriebe. Die „Kulaken“ wurden von ihren Höfen vertrieben, alle Vorräte und Tiere beschlagnahmt, Millionen Ukrainer starben – der Holodomor. Historikerin Lyudmila Hrynevych sieht Parallelen zu heute.

Wie viele Ukrainer starben während des Holodomor?

Es ist schwer, die Zahl der Opfer genau zu bestimmen, weil die Verschleierung der Todeszahl Teil dieses Völkermordes war. Die Behörden haben den Ärzten verboten, die wahren Todesursachen aufzuzeichnen, wichtige Dokumente wurden beschlagnahmt und vernichtet. Eine Volkszählung 1937 in der ganzen Sowjetunion zeigte einen drastischen Rückgang der Bevölkerung der Ukraine, doch die Ergebnisse wurden unter Verschluss gehalten und die Demografen beschuldigt, die Zahlen verzerrt zu haben. Sie wurden erschossen. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekamen Wissenschaftler die Gelegenheit, dieses Thema zu erforschen. In den Jahren 1932 bis 1934 starben 3,9 Millionen Menschen an Hunger, in erster Linie Bauern und ethnische Ukrainer.

Versuchte Stalin, die Ukraine als Nation auszulöschen? Er hatte die Vernichtung der intellektuellen und politischen Elite sowie der Autokephalen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche angeordnet
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Wenn wir über den Massenmord an Bauern durch Hunger sprechen, müssen wir verstehen, dass die Bauern, die damals die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, Träger der nationalen Kultur, der Traditionen und Werte waren. Die Holodomor-Ära, die Wissenschaftler auf die späten 1920er- und 1930er-Jahre datieren, war durch die gleichzeitige Zerstörung der ukrainischen Intelligenz und der Kirche durch die Behörden gekennzeichnet. Es war ein Pogrom. Institutionen wurden zerstört, Hochschulen geschlossen, Wissenschaftler, Lehrer, Schriftsteller und Künstler Repressionen ausgesetzt: Von 259 ukrainischen Schriftstellern, die 1930 publizierten, waren 1938 nur 36 übrig. Die Behörden erzwangen eine Selbstauflösung der Autokephalen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, und das Schicksal vieler Priester war tragisch. Die Repressionen betrafen auch die Kommunistische Partei der Ukraine, der Stalin nicht traute. Auch ukrainische Kommunisten wurden verhaftet, erschossen oder in Lager geschickt.

In den frühen 1930er-Jahren sprachen Stalin und die sowjetischen Behörden von „lokalem ukrainischen Nationalismus“. Ein frühes Vorspiel zu Präsident Putins Angriffskrieg in der Ukraine im Jahr 2014 und zum aktuellen Krieg?

Wenn wir über die 1920er- und 1930er-Jahre sprechen, muss man unterscheiden: Es gab einerseits reale antisowjetische Aktivität vieler Ukrainer, andererseits eine Reihe von Schauprozessen mit „Geständnissen“ fiktiver „konterrevolutionärer Organisationen“. Solche Prozesse wurden als Präventivmaßnahme organisiert, um für die Sowjetmacht gefährliche Tendenzen zu verhindern oder zu begrenzen. Als Stalin 1930 begann, Bauern in Kolchosen zu treiben, verzeichnete die Ukraine den größten Widerstand in der UdSSR – fast eine Million Ukrainer gingen mit Mistgabeln und Äxten gegen die Regierung vor.

Die Zerstörung der ukrainischen Nation, um sie im Sowjetreich zu halten, war das Hauptmotiv Stalins, einen Völkermord zu begehen. Heute verübt Putin das gleiche Verbrechen an der ukrainischen Nation vor den Augen der Welt, ohne seine Absichten zu verbergen. In den 1930er-Jahren war die Ukraine jedoch ein abhängiges Territorium der UdSSR; heute ist sie ein Nationalstaat mit international anerkannten Grenzen und internationaler Unterstützung.

Heute spricht Putin von der Liquidierung von „Nazis“ in der Ukraine.

Die propagandistische Vorbereitung eines Völkermordes folgt immer denselben Regeln. Zunächst ist die Gesellschaft der Meinung, dass eine bestimmte ethnische, nationale, religiöse Gruppe feindselig und gefährlich ist. Es kommt zu einer Dämonisierung und dann einer Entmenschlichung des vermeintlichen „Feindes“. Propaganda bereitet psychologisch den Boden für das Verbrechen vor, und dann benutzt das Regime Propaganda, um das Verbrechen zu leugnen und zu verschleiern.

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