Genf bleibt ein Dorado für russische Spione

Schweiz. Obwohl das Land rege nachrichtendienstliche Aktivitäten verzeichnet, weist Bern keine Agenten aus. Zumindest nicht öffentlich.

Wien/Bern. In seinem Bericht über die „Sicherheit Schweiz 2022“ hält der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) unumwunden fest, was die vielen Ausweisungen russischer Spione aus europäischen Staaten für die Alpenrepublik bedeuten könnten: Diese Entwicklung, heißt es da, könne „die russischen Dienste dazu bewegen, ihre Kräfte in Staaten wie der Schweiz einzusetzen, die keine Ausweisungen vorgenommen haben“.

Bern hat bisher keine russischen Diplomaten bzw. als Diplomaten getarnte Spione ausgewiesen, zumindest nicht schlagzeilenträchtig. In Erinnerung bleibt der Satz von Außenminister Ignazio Cassis, der vergangenen Mai die Schweizer Zurückhaltung folgendermaßen zusammenfasste: „Wir wissen, was der Preis für die Ausweisung ist. Nämlich, dass auch unsere Diplomaten ausgewiesen werden.“ So ist es spätestens seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wirklich kein Geheimnis mehr: Bei den Eidgenossen wimmelt es von russischen Spionen. Die Schweizer Behörden gehen davon aus, dass von den mehr als 220 akkreditierten russischen Diplomaten ein Drittel für die drei Nachrichtendienste Moskaus tätig sein dürfte. Neben genannten Diplomaten dürften eine Reihe von Informanten und auch Militärs als Spione tätig sein, insgesamt fungieren viele als „Quellenführer“, suchen also aktiv nach potenziellen Informanten. Hinzu kommt, dass für explizite Operationen zusätzliche, ausgebildete Spione ins Ausland geschickt werden.

Als Hotspot für Geheimdienstler gilt freilich Genf: Die Stadt im Westen der Schweiz beherbergt zahlreiche internationale Organisationen von den Vereinten Nationen abwärts, ist Sitz von Finanz-, Technologie- und Rohstoffunternehmen und NGOs. In Genf sind die Verkehrswege kurz, und die Nähe zu Frankreich ist ein weiterer Pluspunkt. Denn im Nachbarland komme es bisweilen zur Übergabe von Informationen. „Staatenübergreifende Aktionen sind für die Spionageabwehr schwieriger aufzuklären“, heißt es im NDB-Bericht.

Die diplomatische Tarnung bringt für die Geheimdienstmitarbeiter diplomatische Immunität mit sich, und die schützt in der Regel vor Strafverfolgung. Auch wenn Bern bisher keine russischen Diplomaten ausgewiesen hat, passiere im Hintergrund nicht nichts, sagen Experten. Zum einen dürfte Bern recht gut über die Tätigkeiten der Russen informiert sein, hat der NDB doch die russischen Spionagetätigkeiten zu ihrem Schwerpunkt erklärt. Zum anderen soll es durchaus zu Ausweisungen gekommen sein – diskret. Das Außenamt gibt diese Fälle nicht öffentlich bekannt.

Spionage in der Community

In den vergangenen Jahren sorgten russische Spione in der Schweiz immer öfter für Schlagzeilen. Vor drei Jahren etwa nahm die Genfer Polizei einen Russen mit gefälschten Papieren fest, es stellte sich heraus, dass er innerhalb der russischen Community spionierte. Der Mann wurde 2020 tatsächlich verurteilt – der „NZZ“ zufolge war es das erste Urteil im Land gegen einen russischen Spion. Über die Schweiz hinaus bekannt und brisant wurden hingegen die Genf-Aufenthalte der beiden mutmaßlichen Attentäter von Sergej Skripal. Der ehemalige Agent und Überläufer wurde gemeinsam mit seiner Tochter in der englischen Stadt Salisbury vergiftet (beide überlebten).

Nach der Vergiftung tummelten sich weitere russische Spione zwischen Genf und Spiez – im Labor Spiez im Kanton Bern wurden schließlich die Spuren des Nervengiftes Nowitschok untersucht, jenes Giftes, das Skripal töten sollte.

Zu aufsehenerregenden Spionagefällen kam es auch in der Welt-Antidoping-Agentur Wada in Lausanne, und derzeit dürften neben den Cyberattacken wohl die Rüstungs- und Finanzindustrie der Schweiz im Fokus der Russen stehen. Aktuell wird in Bundesbern darüber diskutiert, Schweizer Munition für die Weitergabe in die Ukraine über Drittländer wie Deutschland doch noch zuzulassen. (duö)

AUF EINEN BLICK

Im Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) zur Sicherheitslage in der Schweiz 2022 weist der NDB darauf hin, dass die russische Spionage im Land „auf hohem Niveau“ betrieben werde. Genf bleibe „Brennpunkt der Spionage“. Zudem komme die Schweiz als Rückzugsort für jene russischen Diplomaten bzw. Spione in Betracht, die aus anderen europäischen Ländern seit Beginn des Ukraine-Krieges ausgewiesen wurden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2023)

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