Der Bauboom in der Türkei hat ein Eigenleben entwickelt, in dem für Kontrolle und Sicherheit wenig Platz war. Der Präsident muss sich dieser Kritik stellen.
Zwischen Maraş, Antep und Urfa liegt ein Gründungsmoment der Republik Türkei. In diesen Städten vertrieb die lokale türkische Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg die Franzosen und Briten, das Dreieck in Anatolien wurde zu einer Heldengeschichte der neuen türkischen Nation stilisiert. Die Städte bekamen Beinamen, die auf den Heldenstatus hinweisen – Gaziantep, Şanlıurfa –, aus Maraş wurde Kahramanmaraş – das Maraş der Helden. Und genau hier lag das Epizentrum des verheerenden Erdbebens vor einer Woche. 100 Jahre nach Gründung der Republik liegen zwischen besagtem Dreieck die Gebäude in Trümmern, Tausende Menschen wurden teils lebendig begraben, und in Trümmern liegt auch die glorreiche Vision einer starken und einigen Türkei, mit der Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Herrschaft krönen wollte. Nun ist die Republik im Jubiläumsjahr in tiefer Trauer, sie ist verletzt, zerbrochen und außerordentlich wütend.
Die Geschichte zieht fatale Kreise. Schließlich liegt der Aufstieg Erdoğans auch in jenen Tagen begründet, in denen das verheerende Erdbeben 1999 die politischen und verwaltungstechnischen Inkompetenzen der Türkei offenlegte, so auch die grassierende Korruption, nicht nur, aber insbesondere im Bausektor. Erdoğan wollte aufräumen damit. Heute wissen wir, dass der türkische Bausektor zu einem der Motoren der Wirtschaft geworden ist, in sagenhafter Geschwindigkeit ist das Land in die Höhe gewachsen. Und nicht nur im Inland: Die türkischen Bauten gelten im Nahen Osten als Exportschlager, zuletzt hat der Sektor auf die Ukraine geschielt und auf lukrative Aufträge gehofft, um das kriegszerstörte Land wiederaufbauen zu können.