Kinder haben unterschiedliche Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit.
Lieblingskinder

Wenn Eltern ein Kind mehr lieben

Eingestehen wollen es sich die wenigsten Eltern – doch Lieblingskinder sind ein bekanntes Phänomen. Die phasenweise Bevorzugung eines Geschwisterchens ist kein Problem, wenn sie ausgeglichen wird. Die dauerhafte sehr wohl.

Es ist einer der ganz wenigen sentimentalen Momente der Margaret Thatcher. In einer Szene der vierten Staffel von „The Crown“, die sie beim Gespräch mit der Queen im Buckingham Palace zeigt, offenbart die „Eiserne Lady“ unter Tränen, dass ihr „Lieblingskind“ Mark auf der Strecke der Paris-Dakar-Rallye in der algerischen Wüste verschollen sei. Elizabeth schockiert weniger das plötzliche Verschwinden des 28-Jährigen, als die Nebenbemerkung der Premierministerin, unter ihren Kindern einen klaren Favoriten zu haben. Kurz darauf wird die Queen von ihrem Mann, Prinz Philipp, mit der Tatsache konfrontiert, dass auch er selbst einen „Liebling“, Tochter Anne, habe. „Und es ist kein Geheimnis, welches Kind du bevorzugst“, fügt er trocken hinzu. Die Königin, selbst vierfache Mutter, bleibt betroffen zurück.

Thatchers besonders enge Bindung zu ihrem Sohn, die Zwillingsschwester Carol nicht zuteil wurde, war in Großbritannien stets so etwas wie ein offenes Geheimnis. „Carol was very much the twin less favoured by her mother“, schrieb der „Guardian“ einmal. Die Tochter der Premierministerin selbst hat dazu mehrfach Stellung genommen – und dabei auch die negativen Auswirkungen des familiären Beziehungsgeflechts auf ihr eigenes Erwachsenenleben seziert. Nur so viel: Dass Bruder Mark ein verheirateter Familienvater ist, sie selbst aber kinderlos blieb, hat nach Ansicht der heute 69-Jährigen auch mit den schwierigen Erfahrungen ihrer Kindheit zu tun.

Was so ungerecht anmutet, ist unter Eltern auf den ersten Blick eher Normalität als Ausnahme: Eine Studie der University of California zeigt, dass 65 Prozent der Mütter und 70 Prozent der Väter ein „Lieblingskind“ haben. Die Dunkelziffer freilich dürfte weit höher sein, geht man davon aus, dass Eltern die Bevorzugung eines ihrer Kinder im Normalfall nur ungern zugeben wollen. Die Präferenz hat mit verschiedenen Faktoren zu tun, im Rahmen der Studie spielten Geschlecht und Alter eine übergeordnete Rolle: Die jüngste Tochter ist demnach am häufigsten das Lieblingskind der Väter, der älteste Sohn jenes der Mütter.

„Sandwichkinder“ – also jene zwischen ihren älteren und jüngeren Geschwistern Geborene – werden am seltensten als Favoriten genannt.
Doch was bedeutet das eigentlich, ein Lieblingskind zu haben? Und: Kann man Kinder überhaupt gleich behandeln? „Nein“, sagt der bekannte deutsche Familienforscher Hartmut Kasten. Und das soll auch gar nicht das Ziel gelungener Erziehung sein. Denn Kinder unterscheiden sich nicht nur in Hinblick auf Alter und Geschlecht, sondern vor allem auch in ihren Eigenschaften voneinander. „Eltern sind deshalb gut beraten, jedes Kind individuell zu behandeln“, sagt der Psychologe im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. „Gute“ Eltern würden ihre Kinder ihren jeweiligen Persönlichkeiten entsprechend fördern und zum Spiel anregen: „Wenn Kinder nicht spielen und ihren Fantasien Ausdruck verleihen, verpassen sie ihre Kindheit.“

Dass Vater und Mutter „phasenweise“ Präferenzen für eines ihrer Kinder entwickeln, sei völlig normal und auch nicht weiter problematisch, wenn sich diese Präferenzen nach einiger Zeit wieder ausgleichen, sagt Kasten. So steht ein Neugeborenes für eine gewisse Zeitspanne in den meisten Familien automatisch im Vordergrund, weil es besonders bedürftig ist. Auch ein Kind, dem der Schuleintritt unmittelbar bevorsteht, kann plötzlich mehr Aufmerksamkeit benötigen als dies in den Monaten davor der Fall war. Darauf sollten Eltern, die ihr Kind ja am besten kennen und Veränderungen unmittelbar feststellen, reagieren – und diese Bedürfnisse erfüllen.

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