Gastkommentar

Die heilige Kuh Neutralität und ihre Verteidiger

(c) Peter Kufner
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Debatte. Die Politik Österreichs hält nicht nur am eingefahrenen Neutralitätskurs fest, sondern vermeidet eine ergebnisoffene Diskussion.

DER AUTOR

Peter A. Ulram (* 1951) ist Politikwissenschaftler, von 1983–2011 war er bei GfK Austria tätig, zuletzt als Bereichsleiter für Public-Politik. Danach war er bis 2016 Geschäftsführer von Ecoquest Market Research & Consulting. Lehrtätigkeit an der Universität Wien und Fachhochschulen. Seit seiner Pensionierung ist er politischer Konsulent und Analyst.

Der zweite offene Brief zur sicherheitspolitischen Lage Österreichs an Bundesregierung, Bundespräsident und Nationalrat wird wohl das Schicksal des ersten nehmen, nämlich höfliches Ignorieren. Verstoßen die Ideen doch gegen zwei Grundsätze der etablierten heimischen politischen Diskussionskultur: die Verehrung „heiliger Kühe“ und die erfahrungsresistente Ignoranz. Heilige Kühe wie die Neutralität erfreuen sich bekanntlich großer Beliebtheit und einer ungestörten Existenz – verbirgt sich unter ihrem Heiligenschein doch so manche Scheinheiligkeit und gilt es als politisches Sakrileg, sie auch nur am symbolischen Schwanz zu ziehen.

Die Neutralität war zunächst eine pragmatische Entscheidung, de facto die Voraussetzung für die staatliche Souveränität. Sie war anfangs nicht unumstritten (gerade auch in der SPÖ), hat aber dem Land im Kalten Krieg gute politische und wirtschaftliche Dienste wie die Ausrichtung internationaler Treffen, die Ansiedlung internationaler Organisationen und Geschäfte gerade der zunehmend maroden verstaatlichten Industrie und vergleichsweise preiswerte Energielieferungen geleistet.

Etwas Scheinheiligkeit war auch dabei: Die Verpflichtung zu einer wirksamen Landesverteidigung wurde nie ernst genommen, auch weil man unausgesprochen auf eine Hilfe der Westmächte im Ernstfall hoffte. Der Warschauer Pakt plante seinerseits für den Fall des Falles Atomschläge auf österreichisches Gebiet.

Es gab auch Schattenseiten: So entwickelte sich ungeachtet der prinzipiellen Westorientierung eine übertriebene Rücksichtsnahme gegenüber den kommunistischen Regimen. In der Auseinandersetzung rund um den EU-Beitritt spielte die Neutralität eine vergleichsweise geringe Rolle; ein späterer Versuch einer kritischen Thematisierung von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel blieb im Wesentlichen ohne Folgen.

Roter Teppich für Putin

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa hegte man – nicht nur hierzulande – große Erwartungen und so manche Illusionen: Putin galt nach den zwar chaotischen, aber annähernd liberalen und demokratischen Jelzin-Jahren als stabiler und verlässlicher Partner, Kontakte und wirtschaftliche Aktivitäten wurden ausgebaut und intensiviert, Putin bei jeder sich bietenden Gelegenheit der rote Teppich ausgerollt. Die zunehmend autoritäre Entwicklung und die Kriege Russlands vor allem in der Schwarzmeerregion wurden dafür tunlichst ignoriert. Nicht nur von Politik und Wirtschaft: Selbst ernannte und dem heimischen latenten Antiamerikanismus nicht abholde „Geopolitiker“ philosophierten über eine Vertiefung der europäischen Beziehungen zu Russland zwecks stärkerer Abnabelung von den USA, und auch viele unserer sonst ach so kritischen Intellektuellen zeigten großes Verständnis für russische Be- und Empfindlichkeiten und übernahmen selbst Propaganda-Narrative wie angeblich drohende faschistische und antisemitische Bedrohungen in der Ukraine.

Wende erst nach dem Überfall

Selbst die gewaltsame Okkupation der Krim und des Donbass 2014 brachte keine grundsätzliche Änderung: Zwar blieben uns die schlimmsten Peinlichkeiten wie die Kumpelfreundschaft Berlusconis und Schröders mit Putin erspart, nicht aber die Bussi-Bussi-Aktionen von Außenministerin Kneissl und den Spitzen der Bundeswirtschaftskammer. Die Abhängigkeit von Russland im Energiesektor wurde sogar noch ausgebaut (Verlängerung des Energielieferungsvertrags um mehrere Jahrzehnte durch die ÖMV 2018).

Erst der Überfall auf die Ukraine 2022 und die endgültige Etablierung einer Diktatur in Russland brachten eine Wende, Korrektur, Selbstkritik und einen Schulterschluss mit dem Gros der anderen westlichen Demokratien in der Sanktionsfrage. Nicht bei allen. Noch 2022 bemäkelten die Spitzen der Wirtschaftskammer manche Auswirkungen der Sanktionen, und provinzielle ÖVP-Politikgrößen (Landeshauptleute von Tirol und Oberösterreich) brachten Unmut zum Ausdruck. Plastisch formuliert: Man hatte lange Gefahrenhinweise und reale Probleme ignoriert, bis man dann gegen eine politische Betonwand krachte, und beschwerte sich danach über die erlittenen Beulen.

Kuh-Kultist: Heinz Fischer

Unbehelligt blieb und bleibt die Verehrung der heiligen Neutralitätskuh, deren Infragestellung – auch nur in Form einer offenen Debatte über Vor- und Nachteile wie allfälliger Alternativen – sofort geahndet wird. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine forderte die SPÖ – angeführt von der Parteiobfrau und dem Klubobmann – blitzartig ein Bekenntnis der Bundesregierung zur Neutralität ein und schickte den prominentesten Kuh-Kultisten (Altpräsident Heinz Fischer) an die österreichische mediale Front.

Die Entscheidung Schwedens und Finnlands – beide unter sozialdemokratischer Regierungsführung und sonst beliebtes Vorbild der linken Reichshälfte für alles und jedes –, der Nato beizutreten, wurde für Österreich diskussionslos als irrelevant abgetan. Die FPÖ – der Putin-Partei durch einen Freundschaftsvertrag verbunden und bewährt in der Verbreitung von Falschmeldungen über angeblich korrekte demokratische Abläufe bei Wahlen und Abstimmungen in Russland – überschlug sich gleichfalls mit Neutralitätsbekundungen, kritisierte die Sanktionen und verunglimpfte den Bundespräsidenten als „Staatsgefährder“. SPÖ und FPÖ verhinderten in ungewohnt trauter Zweisamkeit einen Auftritt des ukrainischen Präsidenten vor dem Nationalrat.

ÖVP erklärt es zum Unthema

Die ÖVP erkannte die Zeichen der Zeit (und der Meinungsforschung). Bundeskanzler Karl Nehammer erklärte einen österreichischen Nato-Beitritt zum Unthema, bekannte sich zur Neutralität in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und wollte seiner Partei ein Diskussionsverbot erteilen. Die Verteidigungsministerin, an sich eher für die Lösung von Sicherheitsfragen als für gefühlsduseliges Outing zuständig, schwadronierte von der Neutralität als „Herzensangelegenheit“ und als Bestandteil der österreichischen Identität. Andere folgten noch rezent ihren Fußstapfen. Gerade die Neos löckten ein wenig gegen den Stachel.

Fazit: Die führenden politischen Kräfte Österreichs halten erfahrungsresistent nicht nur am eingefahrenen sicherheitspolitischen und Neutralitätskurs fest, sondern vermeiden tunlichst sogar eine ergebnisoffene Diskussion.

Was an die Definition von politischer Torheit durch die Historikerin Barbara Tuchman („Die Torheit der Regierenden“) erinnert: Törichte Politik „muss zu ihrer Zeit und nicht erst im Nachhinein, als kontraproduktiv erkannt worden sein (. . .), wenn es zu ihrer Zeit eine praktikable Handlungsalternative gab (. . .), (sie) muss von einer Gruppe und nicht von einem einzelnen Regierenden betrieben worden sein und über die politische Laufbahn eines Einzelnen hinaus Bestand gehabt haben“.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.03.2023)

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